Rocker

Von  //  12. März 2015  //  Tagged: , ,  //  1 Kommentar

Anzug versus Kutte
„Mach dich gerade, du Klappstuhl“ – Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit

Die weiße Dame Kokain war auf Sankt Pauli noch beinah unbekannt, als Werner „Mucki“ Pinzner zum ersten Mal Vater wurde und Klaus Lemke mit Laien einen Fernsehfilm drehte. Inzwischen ist „Rocker“ eine Museumskonserve der alten Bundesrepublik und ihrer Lieder. Die Musik wirkt sich wie eine zweite Erzählung aus – born to wild bis 38, die Easy Rider-Ästhetik kleidet das Geschehen ein. Pure Nostalgie bis hin zum Totschläger, der einen Rocker fällt.

„Rocker“ beginnt mit einem Auflauf der Titelhelden, die Szene kopiert „Wilde Engel“-Motive. In diesem Film stand Peter Fonda dem Idealrocker Modell. Lemke schafft ein Gemälde aus Gesichtern, Frisuren und Jeans. Die Protagonisten stellen ihren Alltag nach, in dem sie eine angefeindete Randgruppe sind. „Unter Adolf hätte es so was nicht gegeben.“ Der sozialkritische Anstrich eines Akzeptanzraums für Nonkonformismus erscheint mit dem Abstand von Jahrzehnten rührend. Aber klar, auch diese Kiezgestalten gehörten zur Gegenkultur einer verordneten Gesellschaft. Die Produktion erfolgte im Auftrag des ZDF und dürfte in der Redaktion für Aufregung gesorgt haben. In einer frühen Einstellung begrüßen die Helden ihren abgehalfterten Boss Gerd (Gerd Kruskopf), der soeben auf Bewährung entlassen wurde. Die Freiheit meint es nicht gut mit ihm, so recht will ihm nichts mehr gelingen. Die Zeit hat Gerd überholt, die Braut von zuletzt begegnet ihm als Abholde (mit einer gewissen Durchlässigkeit) wieder. Gerd verarmt vor den Augen der Kumpel, Zuhälter setzen ihm zu und seine Bleibe in Brand. Da findet so etwas wie ein Kampf der Kunst gegen die Kultur statt. Die Rocker stehen für eine ungezügelte Lebensform, ihre Gegenspieler ökonomisieren das Vergnügen, sie machen die Nacht zum Arbeitstag. Das stimmt nur tendenziell, vor allem prallen Stile aufeinander – Anzug versus Kutte. Inzwischen geht Gerd so stier, dass ihm die Gesellschaft eines fünfzehnjährigen Lehrlings nicht zu doof oder peinlich ist. Hans-Jürgen Modschiedler spielt den korrekten Knaben Mark-Jürgen Modschiedler wie einen ganz jungen Brian Jones, so britisch. Der bayrische Familienname steht an der Tür wie in einem Dokumentarfilm. Sein älterer Bruder Uli (Paul Lyss) geht als Taugenichts unter die Leute. Seine Ehrgeizlosigkeit reicht weit in die Kriminalität. Uli kann einfach nichts außer Sprüche klopfen, Mädchen nachstellen und sich volllaufen lassen. Ein Zuhälter bringt ihn um, Mark wird Zeuge der Tat. Als sich eine Gelegenheit zur Rache bietet, macht er Gerd zu seinem Engel und fackelt selbst auch nicht.

Die Kamera folgt der Handlung wie ein Betrunkener im Einkehrrausch von Kneipe zu Kneipe wankt. Sie hält enorm viel hanseatische Kiez-Patina fest, zu „Sister Morphine“ (Rolling Stones), „It’s All Over Now, Baby Blue“ (Them) und „Jingo“ (Santana).

BRD 1971, Regie: Klaus Lemke

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