Chronique des années de braise

Von  //  1. Dezember 2014  //  Tagged: ,  //  Keine Kommentare

Moses auf Speed
Ein Lehrstück über reaktive Gewalt als Antwort auf strukturelle Gewalt

Frantz Fanon beschreibt das Erwachen kolonisierter Gesellschaften als Kollision antagonistischer Kräfte. Es kommt zu einem „Austausch“. Die Kolonisierten nehmen die Plätze der Kolonialherren ein. Nach Fanon verbindet sich zwangsläufig Gewalt mit dem Austausch.

„Chronique des années de braise“ gleicht einem Bilderbuch, das Fanons Ansichten verbreitet. Der algerische Film wurde 1975 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Er entstand unter idealen Produktionsbedingungen (als Verherrlichung des algerischen Freiheitskampfes) in der Regie von Mohammed Lakhdar Hamina. In den ersten Szenen sieht man ein Volk in Agonie. Das Land wirkt wie begraben. Alles erscheint wie eine Fata Morgana und zugleich so, als könnte die Gattungsgeschichte neu erzählt werden. Als sei der vorrevolutionäre Zustand jungfräulich.

Gegenlichtaufnahmen verklären. Die Wüste streckt sich. Schafe verrecken. Allgemein wartet man auf Regen. Im Streit ums Wasser entsolidarisieren sich die Unterdrückten. Der Film ist Unterricht, erste und zweite Stunde haben wir Revolutionskunde. „Chronique des années de braise“ erklärt Mechanismen der Unterdrückung. Ein Staudamm annuliert überkommene Wasserrechte. Er erledigt eine Tradition der Verteilungsgerechtigkeit. Französische Neusiedler graben der ursprünglichen Bevölkerung das Wasser ab.

Man sieht Gesichter wie aus einer Wiege der Menschheit, ab und zu fallen Schüsse. „Chronique des années de braise“ zieht eine archaische Bilanz. Was nicht elementar ist, kann nicht sein. Dargestellt wird der Lebenslauf von Ahmed (Yorgo Voyagis). Ahmed und seine Brüder sind Bauern, aber ihre Landwirtschaft zieht sich in der Hitze immer wieder aus dem Alltag zurück. Die Sonne hat das Land zur Geisel gemacht. Die Sonne und die Franzosen. Ahmed durchschreitet exemplarisch den Kreis der Entrechteten, 1939 kommt er vom Land in die Stadt. Er gibt das bäurische Dasein auf und verelendet in der Lohnknechtschaft. Er verliert seine Familie an eine Seuche. Nur die Repräsentanten der Fremdherrschaft werden evakuiert. Er wird Delinquent und in die Armee gepresst. Ahmed erhält die Order, „sich schlachten zu lassen“ in einem Krieg, der ihn nichts angeht. Er überlebt mit einem Orden, den er wegschmeißt. Nach Fünfundvierzig erkennt er, dass es keinen friedlichen Wandel geben kann. Er radikalisiert sich unter dem Eindruck der Kolonialgräuel, sprengt den Staudamm und stirbt als Verratener mit der AK 47 im Anschlag.

Ahmed stirbt im Gründungsjahr der Front de Libération Nationale (FNL) 1954. „Chronique des années de braise“ erzählt, wie sich die FNL zusammenrauft. Das ist wieder reiner Fanon. Regisseur Mohammed Lakhdar-Hamina erläutert in einfachen Worten und Bildern das Wesen von struktureller Gewalt. Der Film entschlüsselt ein System der Benachteiligung nach den Regeln kolonialer Herrschaft. Wie gesagt, Fanon hält die Gegengewalt der Kolonisierten für eine historische Notwendigkeit. Beteiligungsangebote der Herrschenden seien das Papier nicht wert, auf dem sie formuliert sind. Im Film verzögert die Reformfraktion das Notwendige. Außerdem hat sie die Verräter in ihren Reihen. Es gibt auch den Weisen, der sich in die Rolle des Narren geflüchtet hat, um für die Wahrheit nicht gehängt zu werden. Miloud heißt der Prophet, der erst einmal nichts gilt im eigenen Land, dann aber, zu Musik von Ennio Morricone, den Staffelstab der Revolution in die Hand nimmt und weiterreicht an Ahmeds Sohn – einen blonden Angelus Novus der Geschichte Algeriens. Lakhdar-Hamina selbst spielt Miloud, er spielt ihn wie einen Moses auf Speed.

Algerien, 1975. Regie: Mohammed Lakhdar-Hamina

Das Ballhaus Naunynstraße zeigt im Rahmen von „We are tomorrow“ und unter dem Titel „Beyond the maps“ noch bis zum 26. Februar jeden Sonntag um 15 Uhr Filme zum Thema Berliner Konferenz bzw. Kolonialgeschichte.

https://www.ballhausnaunynstrasse.de/

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