The Stendhal Syndrome

Die 5. Filmbesprechung in unserer Reihe “Forced Entry – Vergewaltigung im Film”. Unser Einleitungstext zur Reihe findet sich hier.

Maria: Für den französischen Schriftsteller Stendhal war Florenz etwas zu viel des Guten: überreizt von einem Übermaß an Kultur und der geistigen Nähe so vieler großer Künstler, erlitt er 1817 in der Kirche Santa Croce einen Nervenzusammenbruch, fühlte sich vollkommen erschöpft, gleichzeitig verliebt und erregt, wollte aber später vor allem eines: diesen Zustand wieder vergessen. Seit 1979 trägt diese Störung, die immer wieder Touristen in Florenz befällt, den Namen „Stendhal-Syndrom“: Panikattacken und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen zählen zu ihren vornehmlichen Symptomen.

Auch Anna (Asia Argento), Polizistin aus Rom, fällt auf der Suche nach einem Serienvergewaltiger und -mörder, den sie in Florenz vermutet, in den dortigen Uffizien dieser Störung anheim. Unter den starken Eindrücken der Schönheit von Botticellis „Venus“ und der Schrecken von Caravaggios „Medusa“ bildet sie sich ein, die Szenen der Gemälde hören und schließlich auch in die Bilder selbst eintauchen zu können. Verwirrt, ohnmächtig, ihrer Erinnerungen vorübergehend beraubt, wird sie so schließlich in ihrem Hotel zum Opfer des Vergewaltigers Alfredo, den sie selbst sucht und der sie in die Uffizien gelockt hat, wissend um ihre Anfälligkeit für das Stendhal-Syndrom. Gespielt wird dieser Vergewaltiger von Thomas Kretschmann, der mit blondiertem Haar und in 80er-Jahre-Leinenanzug nicht so gut und bedrohlich aussieht wie gewöhnlich in Wehrmachtsuniform, der aber spätestens dann überzeugt, wenn uns die Kamera in dem Moment, in dem er über seinem wehrlosen Opfer kniet, seinen Mund in Großaufnahme zeigt. Der öffnet sich und bringt eine Rasierklinge zum Vorschein, um die sich seine Zunge wieder und wieder wickelt, als wolle sie einen Knoten hineinmachen, so wie Audrey das in TWIN PEAKS mit dem Kirschstängel tut, damit sie den Job im Bordell bekommt. Ich wusste gar nicht, ob ich die Klinge oder die Zunge oder irgendwas ganz Anderes sein wollte in dem Moment, jedenfalls fand ich diese Szene betörend schön, auch dann noch, als Alfredo Anna mit dieser Rasierklinge in die Lippe schneidet und das Ganze recht blutig wird. Sollte das grauenerregend wirken, hat es leider bei mir überhaupt nicht funktioniert. Die Szene ist erotisch so aufgeladen, dass sie wohl an das heranreicht, was Du in unserer Einleitung über Vergewaltigung und sexuelle Phantasie geschrieben hast.

Die Persönlichkeitsspaltung, die die darauffolgende Vergewaltigung bei Anna auslöst oder zumindest vollendet, wird von Argento als feindliche Übernahme der Opferpsyche durch den Täter inszeniert: Mit der körperlichen Einnahme dringen er und seine Grausamkeit in die Persönlichkeit des Opfers ein.

Silvia: Wie klar du doch zu sprechen weißt, große Maria! Ich hoffe, etwas von dir dringt auch in die Persönlichkeit dieser deiner Gesprächspartnerin ein Denn all diese Überwältigung und Vergewaltigung in dem Film, das multiple Eindringen – des Films in uns, der Kunst und des bösen Mannes in Anna, und Annas eigenes Eintauchen in die Bilder, den Mordfall, die Täterpsyche – wie sich da so vieles mit einander in Verbindung bringt, ist verdammt verwirrend, vielschichtig und selbst stendhalsyndromig. Es rührt dabei an tiefenpsychologische Wirklichkeiten und ist oft atemberaubend, schwindlig schön gefilmt.

Annas Verwirrung hat Wurzeln in ihrer Vergangenheit, dieses Gefühl hatten wir beide; sie beginnt nicht einfach in den Uffizien bzw. später unter dem nackten Körper des genüsslich-sadistischen Schönlings Alfredo/Kretschmann. Schon als – in einer wabernden Rückblende – Anna beauftragt wird, Alfredo in Florenz aufzuspüren, wirkt sie somnambul, reagiert auf die Zuwendung ihres Freundes Marco nur zerstreut. Anna kommt schon angstvoll in Florenz an. Das verstörte, in sich gekehrte Mädchen mit der wogenden Brust schaut sich in dem Kunstmuseum um wie in einem Zauberwald. Alles spricht zu ihr, immer bedrängender, lebhaft, vielzüngig und unberechenbar. Während ihrer Bewusstlosigkeit taucht sie in das blaue Meer ein auf Bruegels Bild „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“, hinab zu einem großen, ziemlich eichelköpfigen Fisch, der ihre Lippen küsst; Lippen sind eines der immer wiederkehrenden Motive. Schon als Kind, auch das sehen wir später in einer Rückblende, fällt die kleine Anna fast in Ohnmacht vor einer etruskischen Sarkophagskulptur, die ein verschworenes Pärchen darstellt. Die Kamera blickt mit Anna auf die Münder des Mannes und der Frau, auf ihr feines, mildes, fieses und versponnenes Lächeln, das dem Alfredos ähnlich ist. Und als wir dann mit Anna ihren knöchernen, unheimlichen Vater und die Brüder besuchen gehen in deren ziemlich märchenhaften, veritablen Burg… wir hatten beide das Gefühl, dass Anna, jenseits dieser gezeigten Geschehnisse, ein Geheimnis hat, das uns der Film nicht zeigt. Warum nimmt sie diese blauen Pillen? Warum wird sie schon als Kind beim Anblick dieses einigen Etruskerpärchens so fasziniert und verängstigt? Sieht sie in ihnen ihre Eltern? Oder ihre Zukunft als heterosexuelles Wesen, eingesponnen und verschworen, mit einem Mann an ihrer Seite? Die Gefahr, ihre Identität und die Macht über sich selber zu verlieren, scheint bei normalen Beziehungen wie der zu Marco noch nicht einzusetzen. Aber beim Anblick großer Kunst, nach dem Einnehmen ihrer Tabletten und nach dem heftigen, existenziell gefährlichen, sexuellen Erlebnis mit dem Mörder geht eine Art Wahnsinn bei ihr los.

Maria: Sie schneidet ihre Haare ab, trägt Männerhemden, fängt wieder mit dem Boxen an und schleudert ihrem zukünftigen Ex-Freund Marco, der sie mit Buster-Keaton-Filmen, gefrorener Pizza und Blumen (!) zu betören versucht, ein eindeutiges „I am not your woman anymore“ entgegen, was sie auch unmittelbar darauf in einer simulierten Vergewaltigung eindrucksvoll unter Beweis stellt: „I wanted to fuck him like a man would“, erzählt sie später ihrem Psychotherapeuten. Verwirrt angesichts dieser Veränderungen versucht sie selbst zu malen und bleibt doch nur das Werkzeug, mit dem etwas Anderes in ihr Ausdruck sucht – dies wird besonders deutlich in einer atemberaubenden Szenen, in der sie sich komplett mit Farbe einschmiert und sich über ein großes Blatt Papier wälzt. Ich war so von dieser Transformation fasziniert, dass ich in einer Szene, in der der Vergewaltiger wieder zuschlägt und die aus seiner Sicht gefilmt ist, sicher war, dass Anna nun seine Rolle eingenommen hat und Alfredo gar nicht mehr existiert. Das tut er aber doch und erst, nachdem er Anna ein zweites Mal überfallen und vergewaltigt und sie ihn darauf umgebracht hat, kann sich die Spaltung in Anna komplett vollziehen – dem Leichnam Alfredos, den sie in einen Fluss tritt, ruft sie seine eigenen Sprüche hinterher. Paul Flanagan hat in dem sehr lesenswerten Aufsatz „Gender Transgression in The Stendhal Syndrome“ darauf hingewiesen, dass Anna im Zuge ihrer Re-feminisierung nach dem Mord an Alfredo (Röcke, Langhaarperücke, High Heels etc.) in Wirklichkeit nicht wie eine Frau, sondern wie „Alfredo in drag“ aussieht, der nun die Hälfte ihrer Persönlichkeit kontrolliert. Und so benutzt sie ihre Weiblichkeit, die wie die Perücke selbst nur noch aufgesetzt wirkt, um den Willen Alfredos, sprich ihr psychotisches Potential, das durch die Vergewaltigungen entfesselt wurde, umzusetzen.

Silvia: „I’ve always been too sure of myself“, sagt sie. Das ändert sich nun vollkommen. Die Vergewaltigung – durch Kunst, durch ihn – hat eine ungeahnte Art der Sexualität und Aggressivität in ihr in Gang gesetzt oder übertragen. Sie ist von ihm besessen. Sie wird wie er, will ihre Hände blutig sehen wie seine, ist verrückt nach blutigen Lippen wie er. Wenn sie sagt „er weiß alles über mich“ und „er ist in mir“, so ist es auch das, was Mystiker über ihren Gott sagen. Es ist so seltsam, dass es Dissoziation – den Zerfall der in sich integrierten Identität – wirklich gibt. Oft geschieht es durch ein erschütterndes Erlebnis, hier durch Kunst und Gewalt. Es ist wie eine sehr dunkle Form der Verzauberung. Es trägt Anna heraus aus „sich“, aus der gewohnten, definierten Wirklichkeit, hinein in Chaos, Zeitzerfall, Paradoxie und Unberechenbarkeit. Anna splittert auf in viele in ihr angelegte Wesen – das heitere, beliebte Mädchen, den Vamp, den Macho, den Mörder, die Künstlerin, die Verrückte… alles wird flexibel, relativ, plötzlich veränderlich, wie ein Vexierbild, auch die Männer: Alfredo spricht manchmal wie eine Frau, Annas neuer Freund Marie trägt einen Frauennamen… die in eine Schneekugel geschlossene Miniaturstatue von Michelangelos David, die Anna an verschiedenen Orten auffällt, wirkt wie ein Souvenir aus einer verlorenen, intakten Sicherheit. Ihre handlichen, harmonisch gleich gewichteten Proportionen, die selbstsichere Festigkeit, das ist die eine Seite. In Ausnahmezuständen aber zeigt sich, was es auf der anderen Seite mit der Wirklichkeit auf sich hat. Stendhal wollte es vergessen. Argentos Film hingegen starrt es an.

Italien 1996, Regie: Dario Argento

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3 Kommentare zu "The Stendhal Syndrome"

  1. Silvia Szymanski 2. April 2013 um 09:56 Uhr · Antworten

    Da könnte was dran sein :D Wobei ich fürchte, dass Begehren und auch Geschlechtsteile allgemein schnell so nackt und bedürftig aussehen wie dieser Fisch. Es wundert einen nicht, dass sich die Leute damit oft verstecken.

  2. Jonny 1. April 2013 um 16:41 Uhr · Antworten

    Ich sehe in dem Fisch zu Anfang Dario Argento. Ich bin davon überzeugt, dass er im wahren Leben seine Tochter begehrt; Der Fisch ist nun also er, der, der sie nur in der Kunst lieben kann. Alt, hässlich, verschrumpelt. So sieht er sich ihr gegenüber. Ein inzestuöser Kuss.

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