Taste the Waste
Von Frau Suk // 6. September 2011 // Tagged: Dokumentation, featured // 2 Kommentare
Selten hat mich eine Dokumentation so erschüttert wie diese, und ich komme nicht umhin, einen vor Betroffenheit triefenden Text zu schreiben. Andere Worte fehlen mir nach Sichtung des Films einfach. Wir bemitleiden die armen hungernden Kinder in Somalia und spenden pünktlich vor Weihnachten einen Fuffi an Brot für die Welt, und gleichzeitig werfen wir tonnenweise Lebensmittel in den Müll. Um genau zu sein 90 Millionen Tonnen pro Jahr in der EU. Schätzungsweise wird genauso viel Essen entsorgt wie gegessen. Wie krank dieses System ist, wird einem erst bewusst, wenn man alle Stationen der Lebensmittelproduktion, -vermarktung und -entsorgung abläuft. Genau das macht Filmemacher Valentin Thurn in seiner äußerst systematisch aufgebauten Dokumentation.
20 Prozent des Brotes wandert direkt aus dem Regal in die Tonne, weil die Kunden von ihrem Bäcker erwarten, dass auch kurz vor Ladenschluss noch alle 23 Brotsorten und backfrische Brötchen in 10 Varianten vorrätig sein müssen. 10-50 Prozent des für den Handel angebauten Gemüses wird noch auf dem Feld entsorgt und wieder untergepflügt. Nicht, weil es überreif, unreif oder belastet wäre, sondern weil es nicht den Handelsstandards entspricht. Wir Kunden wollen nämlich nur Schema F. Wir kaufen sie nicht, die kleinen und großen Kartoffeln, den Joghurt, der „nur“ noch eine Woche mindesthaltbar ist, die krummen Gurken und die asymmetrischen Tomaten. Und weil wir sie nicht wollen, sortieren andere sie für uns aus, Bauern (mit blutendem Herz), Supermarktangestellte (auf Anweisung vom Chef), Beamte in den zuständigen Behörden (warum auch immer, vielleicht zugunsten der Lebensmittelindustrie). Prophylaktisch, damit wir sie nicht selbst wegwerfen müssen. Wenn wir die Wahl haben, nehmen wir natürlich den Quark mit dem längsten MHD, den makellosen Pfirsich und das perfekt gemaserte Fleisch. Wir haben uns daran gewöhnt, immer alles kaufen zu können, unabhängig von Saison, Klima und Tageszeit. Und weil wir in den reichen Ländern Lebensmittel vernichten, steigen in den armen Ländern die Nahrungsmittelpreise ins Unermessliche. Ein perverses Spiel.
Taste the Waste kommt trotz all der gezeigten Perversion unaufgeregt daher. „Stimmung gemacht“ wird ausschließlich durch den Einsatz von Musik, allerdings wird dieselbe im Vergleich zu anderen „Betroffenheitsdokus“ recht dezent eingesetzt. Die Bilder sind farbsatt, ruhig gefilmt und gut komponiert. Der weitgehend unkommentierte Zusammenschnitt aus Einzelimpressionen und O-Tönen holt den Zuschauer im heimischen Supermarkt ab und nimmt ihn mit auf eine Reise, zuerst durch Deutschland und das benachbarte Ausland und schließlich durch Länder anderer Kontinente. Nach und nach werden so die Puzzleteile zu einer umfassenden Übersicht des nationalen und internationalen Lebensmittelkreislaufs zusammengetragen. Dabei holt Thurn den Zuschauer durch heitere, hoffnungsvolle Passagen immer wieder aus dem dunklen, stinkenden Bodensatz auf dem Grund kleiner und großer Mülltonnen heraus und lässt ihn beim Kochen mit Kindern, zu Gast bei kreativen Umdenkern oder auf dem Dach bepflanzter Wolkenkratzer frische Luft schnappen. Zweifel an der Authentizität des Gezeigten kamen mir während der gesamten Reportage nie, denn vieles hat man schon mal in anderen Kontexten gesehen, im Supermarkt beobachtet oder an sich selbst festgestellt. Die Leistung von Valentin Thurn ist es, die beim Einblick in kleine und große Mülltonnen gesammelten Bilder sinnvoll zu arrangieren und in Beziehung zu setzen. Am Ende des Films hatte ich jedenfalls das Gefühl, etwas begriffen zu haben.
Deutschland 2010, Buch & Regie: Valentin Thurn Kinostart: 8. September 2011
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