DVD: Wenn einer von uns stirbt… Ein ganz persönlicher Horrorfilm
Von Frau Suk // 20. August 2011 // Tagged: Deutsches Kino, Dokumentation // 1 Kommentar
Wir wollen sie beschützen, die Kinder. Unsere eigenen, und alle Kinder überhaupt. Wir empören uns, wenn Eltern ihre Kinder Horrorfilme gucken oder Ballerspiele spielen lassen. Wenn von Unfällen, Krieg oder Naturkatastrophen die Rede ist, heben wir die versehrten Kinder besonders hervor. Wir warnen die Kinder vor den Tücken des Straßenverkehrs, giftigen Beeren und dem schwarzen Mann. Aber wer beschützt sie vor uns, den Erwachsenen? Denen, die ihnen am nächsten sind, im Guten wie im Schlechten? Denen, die handeln, und denen, die zu- oder wegschauen?
Wie nicht zuletzt durch die Kirchenskandale in den letzten Monaten deutlich geworden ist, ist nur in seltenen Fällen jemand für die Kinder da, wenn sie ihren ganz persönlichen Horrorfilm durchleben, wenn das Grauen – der Missbrauch – real wird. Jan Schmitt hat einen dieser Horrorfilme nachgezeichnet. Die Protagonistin: Seine Mutter Mechthild. Elf Jahre nach ihrem Freitod begibt sich ihr Sohn auf Spurensuche und setzt Tagebucheinträge, Interviews, Fotos und Tonband- und Videomitschnitte zu einem fragmentarischen Bild des Schicksals seiner Mutter zusammen. Auf allen Versatzstücken klebt wie schwarzer Teer der Fingerabdruck des Jesuitenpaters, der Mechthild jahrelang unter Duldung der Eltern sexuell missbraucht hat.
Jan Schmitt lässt in seiner Dokumentation vor allem Frauen zu Wort kommen; Freundinnen, Kolleginnen, ehemalige Heimmitschülerinnen, die Schwestern seiner Mutter und die Mutter selbst. Das Resultat ist eine schonungslose aber auch sehr poetische Dokumentation, in der dem Täter nur soviel Raum zugestanden wird, wie zum Verständnis der Geschichte Mechthilds unbedingt nötig ist. Während diejenigen Frauen, die nicht aus dem Familienkreis stammen, offen, mit Betroffenheit und Liebe von Mechthild erzählen und bereitwillig ihren Teil zur Geschichte beitragen, demonstrieren die beiden Schwestern ungewollt, wie die Mechanismen zur Verdrängung und Vertuschung innerhalb der Familie funktionieren. Man will die Schwestern schütteln, sie aus ihren Rechtfertigungskonstruktionen reißen und sie zwingen, das Leid der Jüngsten anzuerkennen. Doch Jan Schmitt tut nichts dergleichen. Ohne einzugreifen lässt er die Tanten erzählen und gibt sie gerade hierdurch dem Urteil der Zuschauer preis. Die einzige Männerstimme, die Schmitt in seiner Dokumentation zulässt, ist die von August Diehl, die stellvertretend für ihn, den Sohn spricht. Schmitt zeigt sich auf diese Weise als Teil des Familiensystems, dem seine Mutter zum Opfer fiel, behält aber durch die zurückhaltenden, nicht selbst eingelesenen Reflexionen genug Distanz, um dem Zuschauer Platz für eigene Assoziationen und Schlüsse zu lassen.
Manche Fäden bleiben lose aus der Geschichte hängen. So erfahren wir, dass Mechthilds jüngerer Bruder Herrmann im Priesterseminar verrückt geworden ist. Doch ein Gespräch mit dem Onkel wird Jan Schmitt verwehrt, und so bleibt auch uns nur das Mutmaßen über das Schicksal Herrmanns. Andere Fäden werden im Verlauf der Dokumentation verbunden. Zusammengehalten werden die Bruchstücke von den Stimmen Susanne von Borsodys, August Diehls und Meret Beckers, die wie Regen auf verbrannte Erde fallen und die Trocknungsrisse auffüllen. Einziger Kritikpunkt an diesem sehr persönlichen, stillen und zugleich fesselnden Film ist der aus einem inkorrekten Zitat Mechthilds bestehende Titel Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris.
Deutschland 2009, Regie: Jan Schmitt.
Die Dokumentation, die bereits 2009 (also vor Bekanntwerden der zahlreichen Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen) in die Kinos kam, ist im Juli 2011 bei good!movies als DVD erschienen.
Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris
Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris
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