Ich bin neugierig – gelb
Von Marco Siedelman // 3. Februar 2011 // Tagged: Schwedenfilm, Skandalfilm, Skandinavien // Keine Kommentare
Vilgot Sjöman lernte die Kunst der Filmregie aus erster Hand bei Ingmar Bergman, dem wohl denkbar besten Mentor für einen aufstrebenden Künstler. Zeitlebens begeistert von amerikanischem, italienischem und französischem Kino, wurde er vor allem beeinflusst durch den Neorealismus und die Nouvelle Vague. Schon in früheren Werken wie „491“ und „Geschwisterbett“ machte die ungezügelte Freigängigkeit Sjömans Stil einem breiteren Publikum bekannt. Der schwedische Film war in vielerlei Hinsicht freizügiger im Umgang mit Sexualität und lockte in ganz Europa ein sensationalistisches Publikum in die Kinos. Selbst einige Filme Bergmans wurden teilweise reduziert auf ihre sexuellen Inhalte, beispielsweise „Die Jungfrauenquelle“ oder auch „Das Schweigen“. Sjöman ging aber wesentlich weiter als Bergmann und sprach in aller Offenheit unbequeme Themen wie Prostitution, Inzest und sexuellen Missbrauch an.
„Ich bin neugierig“ sollte aber auch für Sjöman ein besonderer Film werden. Seine vorigen Filme hatten gute Einspielergebnisse erzielt und seine Arbeitsweise stellte sich als zuverlässig heraus. Also konnte er erstmals aus dem vollen Schöpfen, absolute künstlerische Freiheit mit totaler Entscheidung über den Schnitt sowie ein hohes Budget wurden ihm vom Studio garantiert. Obwohl er den finanziellen Rahmen mehrmals überschritt stellte ihm die Produktion immer mehr Geld und Zeit zur Verfügung, nicht aber ohne gebannt auf das Ergebnis zu warten. Sjöman hatte im Laufe der Dreharbeiten derartig viel Material angehäuft, das er gleich zwei Filme zum selben Thema aus dem Rohschnitt montierte. Da beide Filme gigantische kommerzielle Erfolge, vor allem in Schweden aber auch international, erzielten, erwies sich das blinde Vertrauen in den Regisseur als die beste Entscheidung. Beide Filme erhielten denselben Titel mit dem Zusatz gelb und blau, den beiden Farben der schwedischen Flagge. Bereits der erste Film, „Gelb“, entzieht sich sämtlichen gängigen Sehgewohnheiten, verzichtet auf jede Erzählstruktur und lässt dem Zuschauer kaum die Möglichkeit, das eben gesehene einzuordnen oder zu verdauen. In der ersten Filmhälfte wird man ins kalte Wasser geworfen und sieht sich einem überbordenden Kaleidoskop dokumentarischer Aufnahmen entgegen gestellt.
Lena ist eine Art Hauptfigur, der Film begleitet die Schauspielschülerin auf ihrer Odyssee durch die Straßen der schwedischen Städte, immer auf der Suche nach Antworten. Auf der Suche nach so vielen Antworten wie nur möglich. Der Wissensdurst der jungen Schwedin kennt keine Grenzen, sie beschäftigt sich mit jedem erdenklichen Thema, sei es sexueller, politischer, soziologischer oder religiöser Natur. Mit ihren Fragen fordert sie die Bürger auf zu Stellungnahmen, vornehmlich zur zeitgenössischen Lage in Schweden selbst. So widmet sich ein Abschnitt beispielsweise der jüngst eingeführten Möglichkeit, Zivil- statt Wehrdienst abzuleisten, ein anderer dem Niedergang der schwedischen Monarchie, doch auch globale Problematiken wie der tobende Vietnamkrieg spielen eine Rolle im Gesamtbild der filmischen Collage. Beinahe ohne jedes stabilisierende Gerüst bombardiert die erste Filmhälfte den Zuschauer mit etlichen kurzen, hart geschnittenen Sequenzen, deren Montage bei oberflächlicher Betrachtung völlig willkürlich erscheint. Diverse Fragen werden Passanten aus allen Gesellschaftsschichten gestellt, ausgehend von der Frage, ob Schweden ein Klassensystem habe über die Frage nach dem Sinn einer militärischen Aufrüstung mit Atombomben, gefolgt von Diskussionen über die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft. Jedes dieser komplexen Themengebiete wird aber lediglich angerissen, die Antworten der Passanten zeugen entweder von politischen Desinteresse oder fallen recht knapp aus, nicht selten hören wir bekannte Stammtischphrasen, die in ihrer Art erschreckend modern eingefangen werden.
Was will uns Regisseur Sjöman mit einem solch unzugänglichen Monster von Film, welches sich in der zweiten Hälfte noch zum bitteren Seelendrama entwickelt, eigentlich sagen? Diese Frage ist schwer zu beantworten, gerade weil sich die Aussage hinter der Doppelbödigkeit der Inszenierung verbirgt. Die Film-im-Film Geschichte, aber auch der scheinbar streng subjektive Blickwinkel der Hauptfigur Lena, diese und viele weitere Aspekte erschweren es dem Rezipienten, bis zum Kern des Films vorzudringen. Zunächst gilt es den naiven Idealismus von Lena von der eigentlichen Grundhaltung zu unterscheiden, wobei generell in die gleiche Kerbe geschlagen wird. Sjöman sieht sich als Reformer der schwedischen Moral, womit er angesichts der Rezeptionsgeschichte seines Doppelfilms sicherlich nicht falsch liegt. Seine Gedanken orientieren sich eindeutig an einem linksgerichteten Pazifismus, der Film tritt ein für Toleranz, freie Meinungsäußerung und ebenso freie Liebe, ohne die aufkommende 68er-Generation zu verherrlichen. Da „Ich bin neugierig“ gegen starren Konservatismus eintritt, wirkt die experimentelle Freiheit wie eine formelle Entsprechung des Grundgedankens. Stil und Inhalt bedingen einander also ideal und machen sich voneinander abhängig. Die Kameraführung steht in der Tradition von Raoul Coutard („Jules und Jim“), der mit seinem betont ungekünstelten Blick entscheidenden Anteil leistete an der Ästhetik der Nouvelle Vague. Auch die schlechte Beleuchtung unterstreicht die dokumentarische Atmosphäre, die an sich gute deutsche Synchronisation zerstört diese Aspekte aber durch ihre Künstlichkeit.
Auch wenn sich Sjöman keinem Genre verpflichtet und auch nur wenig von seinen filmischen Vorbildern erahnen lässt, so lässt sich die Nähe zum Mondofilm kaum leugnen. Auch Mondos, allen voran die klassischen Meisterwerke von Jacopetti, nutzen einen dokumentarischen Deckmantel um sensationalistische Bilder verkaufen zu können, ohne große Probleme mit der Zensur zu bekommen. Ebenso die extreme Stilisierung der Details, die einer möglichst neutralen Sichtweise im Wege steht – zwar ist jeder Dokumentarfilm eine Form von inszenierter Realität und birgt schon in der Bildmontage zwangsläufig eine individuelle Haltung zum Thema, für Filme wie „Africa Addio“, „Mondo Cane“ oder eben „Ich bin neugierig!“ gilt dieser Aspekt aber in besonderem Maße. Im Übrigen lieferte der Film die Inspirationsquelle für die berüchtigte Schulmädchen-Report Reihe, ist aber durch die clever distanzierte Inszenierung filmisch höher einzuordnen. Dennoch gestaltet sich der Konsum für den heutigen, abgeklärten Zuschauer als trocken und beschwerlich. Erst in der zweiten Hälfte entwickelt die Hauptfigur etwas Tiefgang und das stakkatohafte Schnittgemetzel beruhigt sich, findet zumindest ansatzweise so etwas wie einen filmischen Fluss. Die Interviews werden zurück genommen zugunsten der Konzentration auf Lena und den Zusammenbruch ihrer Ideale. Ihre romantische Vorstellung von Revolution und Selbstakzeptanz verpufft, als sie die volle Gefühlskälte ihres vermeintlichen zärtlichen Liebhabers zu spüren bekommt.
Diesen Bruch im emotionalen Gefüge von Lena inszeniert Sjöman auf schmerzlich direkte Weise, lässt seine Protagonisten einen wahren Seelenstrip hinlegen. Nackt und verletzbar stehen sich die beiden Streitenden entgegen, der Schmerz Lenas wird für den Zuschauer spürbar, umso mehr, weil vorher ein so harmonisches Bild aufgebaut wurde. In den kontroversesten Szenen des Films liegen Lena und ihr Freund nackt auf dem Bett und liebkosen verträumt die Geschlechtsteile des Anderen. Eine Szene voll von spröder Zärtlichkeit, der jede Annäherung an pornographische Ausschlachtung fern liegt. Dennoch kokettiert der Film sichtbar verspielt mit seinen skandalösen Schauwerten – doch nicht aus diesem Grund sahen „Ich bin neugierig – Gelb“ mehr als ein achtel der schwedischen Bevölkerung im Kino. Vielmehr speiste die aufwieglerische, anti-rechte Attitüde den Verdacht linker Propaganda, sodass sich der Film schnell im Kreuzfeuer der Medien wieder fand. Für Sjöman bedeutete dies nicht nur kostenlose Werbung, die Proteste gingen soweit, dass rechtliche Schritte gegen den Regisseur eingeleitet wurden. Aufgrund der Verletzung des sittlichen Empfindens gab es eine Anklage, die aber ergebnislos blieb und für Sjöman keine Konsequenzen bereithielt.
In beinahe essayistischer Form kommentiert der Regisseur all jene Problematiken der Filmemacherei, mit denen er schließlich sehr vertraut war. Ironisch lässt er das Publikum teilhaben am schwierigen Schaffensprozess eines filmischen Werkes und gibt seinem Film ganz kalkuliert einen unfertigen Anstrich. Dieser Work in Progress Stil steht Jean-Luc Godard wesentlich näher als Sjömans Lehrmeister Bergman, mit dessen durchstilisierten Autorenfilmen „Ich bin neugierig“ nicht viel zu tun hat. Mit dieser avantgardistischen Methode kann der Film gemeinsam mit seinem Zwilling ‚Blau’ als Manifest der intellektuellen Linke der schwedischen 60er gelten. Dementsprechend kritisch wird auch die Institution der Ehe und das allgemeine Familiengefüge der Mitteleuropäer hinterfragt. Die teilweise zu oberflächliche und fragmentarische Abhandlung der (für eine filmische Aufbereitung sowieso viel zu komplexen) Themenkreise rief viel Unmut unter den Gegnern des Films hervor, doch Sjömans Absicht ist keine von umfassendem Informationscharakter. Im Gegenteil, der Film fordert möglichst viel Hintergrundwissen im Voraus ein, will mehr provozieren als unterrichten.
Das Bild der Schweden, welches der Film entwirft, ist ein leicht überspitztes. Die Bürger werden als selbstzufrieden und nicht an brisanten Themen interessiert gezeigt, nur wenige Menschen vertreten ihre Meinung mit Nachdruck. Und wenn, dann meist aus einer kronloyalen Sichtweise heraus. Kurzum, die Schweden scheinen die Missstände ihrer Politik zu ignorieren weil es ihnen zu gut geht. Als Tatsache wird diese Polemik nicht verkauft sondern bietet eher die Möglichkeit für einen Denkanstoß. Die Diskussion erhitzte sich in der Öffentlichkeit immer weiter, der Film war in aller Munde und wurde sogar in einigen Ländern (darunter Norwegen) zeitweise verboten. Kein Wunder, denn die subversive Sprengkraft, die aus der Sexualisierung der politischen Inhalte in der zweiten Filmhälfte hervor geht, findet sich selbst im europäischen Autorenfilm äußerst selten. In den USA avancierte er aufgrund der graphischen Sexualität zum Skandalfilm und löste eine Grundsatzdiskussion aus zum Thema Pornographie im Verhältnis zu Kunst.
Betrachtet man den Film aber abschließend losgelöst vom zeitlichen Kontext, so findet man ein Werk vor, das dem Zuschauer beinahe jeden Zugang verweigert, seine Sexszenen zwar nicht voyeuristisch ausbeutet, letztlich aber beinahe unerträglich langatmig wirkt. So bleibt ein gewagtes Filmerlebnis (erstmals wird in einem schwedischen Film ein nackter Mann gezeigt, und das in aller selbstverständlicher Ausführlichkeit) welches aber unbedingt eine tiefere Auseinandersetzung vom Zuschauer fordert und ihn damit direkt zwingt, Stellung zu beziehen. Insofern hat der Film sein Ziel schon erreicht, abgesehen von der Tatsache, dass sein kommerzieller Erfolg den eines Ingmar Bergman bei weitem überstieg.
Ich bin neugierig – gelb ist in einer Doppelbox zusammen mit Ich bin neugierig – blau in der Neuauflage der Reihe Kino Kontrovers in Kooperation von Legend Home Entertainment und Bavaria Media erschienen. Die DVD kommt im guten Karton-Cover und ist mit Booklet und ordentlichem Bonusmaterial ausgestattet.
Jag är nyfiken – en film i gult / Schweden 1967 / Regie: Vilgot Sjöman
Bei Amazon kaufen: Ich bin neugierig – gelb/blau [2 DVDs]
Ich bin neugierig – gelb/blau [2 DVDs]