Cold War – Der Breitengrad der Liebe
Von Jamal Tuschick // 16. Dezember 2018 // // 1 Kommentar
In einem Vorraum tragischer Ereignisse. Liebe als Produktionsmittel.
Die polnische Spitzensängerin Zula kann nicht migrieren. Sie braucht ihr Land wie die Luft zum Atmen.
Sie machen Volksmusik. Der Komponist, Arrangeur und Pianist Wiktor (Tomasz Kot) und seine Mannschaft spüren mündlichen Überlieferungen nach, betreiben Quellenstudien und versichern sich des Authentischen in den letzten Winkeln der jungen polnischen Republik. Rzeczpospolita Polska – Republik im Sinn von Rzeczpospolita besitzt eine eigene Bedeutung. Das Wort bezeichnet die „gemeinsame Sache“. Das ist wichtig zu wissen, denn der „Breitengrad der Liebe“ handelt von der Liebe zu Polen und dem Fluch der Abtrünnigkeit vor allem.
Die Polinnen und Polen, die Wiktor 1949 in einem Ensemble der Besten zusammenfasst, fühlen sich in ihrem Land wie auf einem eigenen Planeten. Das Eigentümliche wird so stark empfunden, dass es die Solistin Zula (Joanna Kulig) von einer Republikflucht noch abhält, als es schon kein unproblematisches Zurück mehr gibt. Zula kann ihrem Land nicht den Rücken zukehren. Sie verkümmert in jeder Fremde. Ihr berufliches und privates Selbstverständnis strotzt auf die allerselbstverständlichste Weise chauvinistisch.
Davon ahnt der Zuschauer nichts, als sich die Elevin in einem Vorraum tragischer Ereignisse verliebt. Das Objekt ihres Begehrens erschüttert als gutaussehender Wunderknabe die Zurückhaltung vieler Frauen. Wiktor vereint auf sich ein Dutzend verheißungsvoller Attribute und bleibt doch alles in allem hinter den Erwartungen zurück. Er ist immer für eine Enttäuschung gut, aber eben auch gut genug, um Anspruchsvolle angemessen zu enttäuschen. Dunkle, gebildete, melancholisch-charaktervolle Raucherinnen verlieben sich automatisch in Wiktor.
Zula ist anders. Sie ist blond, impulsiv, vorlaut, unsicher – eine geniale Göre. Sie saß im Gefängnis, nach einer rabiaten Zurückweisung ihres Vaters.
„Er hat mich mit meiner Mutter verwechselt“, erklärt sie dem Geliebten. „Aber keine Angst, er lebt noch.“
So eine, denkt man, kennt keine Angst und lässt sich nicht einsperren. Doch so ist das überhaupt nicht. Zula berichtet als IM dem politischen Offizier Kaczmarek. Er ist Chef der Ensembleführungsriege. Sie beichtet die Geheimnisse anderer im Geist der Unterwerfung. Kaczmarek hört übrigens seine zukünftige Frau ab.
Stalin überstrahlt das Ostblockimperium. Man ordnet Aufweichungen der reinen Lehre von der Volksmusik an. Staatsmänner verherrlichender Kitsch gehört nun zu einem Programm, das überall in Polen frenetisch beklatscht wird. Wiktor wächst in der Zusammenarbeit mit Zula über sich hinaus. Die Riege um Zula und Wiktor avanciert zum Exportschlager bis in die Deutsche Demokratische Republik. Die Delegierten der Freien Deutschen Jugend liegen den katholischen Kommunist*innen nicht. Die Hauptstadt der DDR trennt noch wenig von Westberlin. Man muss nur über eine Straße und ist in einem anderen System. Eine Verabredung sieht vor, dass Zula und Wiktor gemeinsam die Straße in die Freiheit überqueren. Aber als die Stunde gekommen ist, friert Wiktor allein am Treffpunkt. Er geht auch allein und das muss er sich Jahre später anhören:
„Ich wäre nicht ohne dich gegangen.“
Wiktor spielt die Gassenhauer des Jazz in Paris. Er richtet sich auf Montmartre stilecht ein. Das existenzialistische Chichi definiert sich auch in den Wachsmanschetten der als Kerzenhalter genutzten Weinflaschen.
Dieses Stadium der Ereignisse zeigt Wiktor auf einem absteigenden Ast. Man erkennt den derangierten Kader. Ohne kommunistisches Korsett macht der Mann keine besonders gute Figur. Er löst sich förmlich auf.
Er arrangiert sich, das kann Zula nicht. Sie kann aber auch nicht von Wiktor lassen. Sowenig wie Wiktor von ihr. Wiktor geht Risiken ein, um Zula in Zagreb zu sehen. Der sozialistische Bruderstaat Jugoslawien leistet der polnischen Stasi Amtshilfe und setzt Wiktor in einen Zug, Wiktor fürchtet nach Warschau.
Aber Polen will den Renegaten gar nicht. Er darf weiter Jazz und den Liebhaber vermutlich nicht nur einer Dichterin in Paris spielen. Wieder taucht Zula auf. Sie spielt eine Platte auf Französisch ein und nennt sie einen „Bastard“. Sie kehrt nach Polen zurück und lockt Wiktor in sein Unglück, das zur Bestimmung hochgejazzt wird.
Cold War – Der Breitengrad der Liebe, Spielfilm, Polen/Großbritannien/Frankreich 2018, Regie: Paweł Pawlikowski. Mit Joanna Kulig, Tomasz Kot.
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