Roma

Von  //  15. Dezember 2018  //  Tagged:  //  Keine Kommentare

Ozeanisches Geplätscher

„Roma“ ist ein gewaltiger Film, gebaut nach den Spielregeln der Überwältigungsarchitektur. Besonders deutlich zeigt das eine Strandszene, in der ozeanisches Geplätscher zur bitteren Seenot hochgefahren wird. Eine suggestive Kamera und ein über das Geschehen weit hinausgehender Ton donnern ein laues Lüftchen und leichten Seegang in die Taifunklasse. Zur Heldin wird die Nichtschwimmerin Cleo. Das indigene Hausmädchen einer weißen Familie, die in dem titelstiftenden Stadtteil von Mexiko-Stadt Roma lebt, hat gerade eine Totgeburt hinter sich. Die Rettung der Anvertrauten erlaubt ihr ein Geständnis. In einem rührenden Augenblick, die Familie vereint sich mit Cleo, sagt sie: „Ich wollte nicht, dass sie (das Kind) lebt.“

Der Erzeuger ist eine verlorene Seele. Mit Kampfsport und den Einflüsterungen eines Gurus hält er sich in Gang. In den Straßenkämpfen im Zuge der Studentenproteste drei Jahre nach Achtundsechzig verstärkt er eine halbstaatliche Todesschwadron. Er verkörpert eine männliche Variante der rural-indigenen Verlorenheit in Mexikos populärsten Moloch. Obwohl er nur als Randfigur erscheint, klärt sich viel mehr über ihn als über die rasend verwöhnten Nutznießer weißer Privilegien, die Cleo wie den sprichwörtlichen Sack Flöhe hütet.

Regisseur Alfonso Cuarón verarbeitet in „Roma“ seine Familiengeschichte. Die historische Marke des Films ist das Fronleichnam-Massaker vom 10. Juni 1971. Studenten protestieren gegen Präsident Luís Echeverría. Tausende demonstrieren vor der Pädagogische Hochschule, bis sie von den paramilitärischen „Halcones“ angegriffen werden. Cuarón ist neun, als ihn die mexikanische Geschichte zum Zeugen eines Großereignisses macht. Eine mitunter kindliche Perspektive, mit Einstellungen, die Erwachsene und Ereignisse gewaltig aussehen lassen, spielt mit den Chancen der naiven Auffassung. Letztlich entspricht die Erzählung jedoch Cleos reduziertem Programm.
Ihr widerfährt das Leben. Sie beschreitet einen Passionsweg, während ihre Arbeitgeberin, die vierfache Mutter Sofia, in den Zustand einer Alleinerziehenden hineingefräst wird. Zunächst verschweigt sie Toño, Paco, Pepe und Sofi das Scheitern der Ehe. Die Abwesenheit des Vaters erklärt sie mit einer Forschungstätigkeit in Kanada.

Yalitza Aparicio spielt Cleo als eine, der auf Erden nicht zu helfen ist und die trotzdem klarkommt. Sie löst sich aus der Erstarrung ihrer hoffnungslosen Herkunft, indem sie sich in dem Trubel ihrer Arbeit gebenden Familie auflöst. Sie verströmt eine Liebe und Zärtlichkeit, die sie für sich selbst nicht aufbringt und die auch sonst niemand für sie übrig hat. Ich frage mich, wo Cleo die Liebe hernimmt, bis ich verstehe, dass die vermeintliche Selbstlosigkeit eine Qualifikation ist; eine Überlebensfertigkeit. Damit kommt Cleo über die Runden. Zum Schluss ersetzt sie halbwegs den verlorengegangenen Vater und Gatten.

Regie: Alfonso Cuarón, 2018

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