Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Kleiderschrank feststeckte
Von Jamal Tuschick // 12. Dezember 2018 // // Keine Kommentare
Der Flaneur von Mumbai. „Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Kleiderschrank feststeckte“ erzählt Migration als Märchen und macht dabei froh.
Seine Schule ist die Straße, doch seinen wichtigsten Lehrmeister findet Aja im Gefängnis. Das Kind sitzt da allein in einer Zelle ohne Fenster. Eines Tages nimmt Ajas Nachbar Kontakt auf. Er behauptet, aus einem Fenster etwas vom Leben in Freiheit sehen zu können. Er schildert dem schon halb erloschenen Delinquenten Schönheiten, die einen Passanten streifen. Dabei erzeugt er das Bild eines Mannes in der Menge. Der Erzähler wird zum Flaneur von Mumbai. So gewinnt er nicht nur seine eigene Freiheit, sondern schenkt die Freiheit auch seinem kleinen Zuhörer.
Das ist unglaublich suggestiv. Die Kraft der Imagination wird zum Weltbeweger. Der Erzähler lehrt Aja Phantasie wie ein Stemmeisen einzusetzen und so auch wie ein Skalpell. Die Phantasie skaliert, eskaliert und skalpiert. Sie ersetzt die Wirklichkeit tatsächlich.
Schließlich entlässt man den einen wie den anderen, wenn auch nicht gemeinsam. Die beiden begegnen sich, sie haben sich nie zuvor gesehen. Und doch erkennt der Erzähler Aja, der sich anschickt einen blinden Bettler zu bestehlen. Der Blinde entpuppt sich als Meister. Er hat im Gefängnis Aja durch ein Fenster seines Geistes schauen lassen. Die Initiation macht Aja feuerfest. Er bastelt sich einen Beruf zwischen Tramp, Trickdieb, Gaukler, Dichter und Fakir zusammen – eine Transitexistenz im Ausnahmezustand der Revolte gegen die zäh haftende Armut. Auf der Suche nach einem mysteriösen Vater fliegt er mit der Asche seiner Mutter im dürftigen Gepäck nach Paris und betrügt da erst mal einen Betrüger mit einem falschen Hunderter. Dann quartiert er sich bei Ikea ein. In der Zwischenzeit verliebt er sich „in der Stadt der Liebe, wo die Liebe zehnmal stärker wirkt als an jedem anderen Ort“.
Das erklärt Aja Jahre nach seinen europäischen Abenteuern drei Jungen, die in Erwartung langer Haftstrafen der missionarischen Erzählung entzüglich ausgesetzt sind. Am Ende wird ein Wärter nach der Wahrheit fragen, und Aja wird in seiner unnachahmlichen Art entgegen: Wahr sei seine Geschichte lediglich in den wesentlichen Punkten.
Dhanush spielt den Asphaltcharismatiker. Aja changiert zwischen Charmeur und Scharlatan, die Schmiere trieft, aber das ist egal. Der Film verhandelt lustig die Abläufe prekärer Migration. Auf einem Ikea-Transport gelangt Aja nach England und findet sich wieder in der Gesellschaft von Geflüchteten ohne Papiere. Denen präsentiert er sich als Tourist, bis er eines besseres belehrt wird. Einer wie er ist auch mit Pass so unglaubwürdig wie ein Flüchtling. Aja übersteht eine Quarantäne für Asylsuchende in Spanien und die Not in einem libyschen Camp. Natürlich erlebt er noch ganz andere Sachen, sein einziges Hemd ist auf dem Höhepunkt seiner westlichen Triumphe hunderttausend Euro wert. Das Geld kommt den Ärmsten zugute. Der Osten holt Aja ein, aber auch die Liebe.
F/IND/B 2018. Regie: Ken Scott. Mit Dhanush, Bérénice Bejo, Erin Moriarty