Der Vorname
Von Jamal Tuschick // 12. November 2018 // Tagged: Deutsches Kino, featured // Keine Kommentare
Der Wahrheitsabend. Sönke Wortmanns Kammerspiel schildert Auswüchse eines familiären Abendessens. Die Geselligkeit entgleist fahrplanmäßig bei Curryhuhn-Indisch und stürzt zum Nachtisch in einen unvorhergesehenen Abgrund.
Bonn liefert den Schauplatzhintergrund und einen historischen Mantel. Die Hauptstadt der rheinisch-katholischen Republik spielt nicht nur in den Kulissen der Handlungsgegenwart mit. Vielmehr kleidet ihre Attitüde das Geschehen ein. Auch die Person mit der stärksten Gravitation, der Literaturprofessor Stephan, gespielt von Christoph Maria Herbst, schillert in den Farben der alten Bundesrepublik. Stephan erscheint als vitales Gespenst und Machointellektueller und wäre in echt ein #Kandidat unter besonderer Beobachtung.
Ich bleibe bei Stephan, sein Typus hatte einmal massive Prägungskraft. Die Stephans (intellektuell, seelisch und wirtschaftlich stark) verkörperten das gute Leben, ohne die Entbehrungen in vielen geistigen Haushalten.
Seine Prominenz verdankt Stephan einer Arbeit über den frühen Heinrich Böll, der, so Wolfgang Weyrauch, beispielhaft „Literatur um den Preis der Poesie“ hervorbrachte und in dieser Dürftigkeit den Weltkrieg im Antikriegsroman fortsetzte. Er kreierte im Selbstversuch die Figur des Landsers als Friedensaktivisten.
Stephan erwartet und empfängt René, den Lebensmenschen seiner Frau Elisabeth, ihren Bruder Thomas und dessen hochschwangere Freundin Anna. Im Hintergrund wirkt sich Schwiegermutter Dorothea telefonisch aus, während Elisabeth in der Küche was Indisches zaubert.
Iris Berben spielt Dorothea als von bürgerlichen Zwängen erlöste Witwe; aktivistisch-freidrehend in bewegender Landschaft. Dorothea nervt die spießige Tochter.
Elisabeth ist Lehrerin, nach Jahrzehnten im Dienst noch beflügelt vom pädagogischen Eros. Caroline Peters spielt sie so überzeugend, dass nebenbei ein Roman erzählt wird. Elisabeth verausgabt sich in Familie und Beruf, sie schmeißt sich weg, so unbeachtet, dass sie ständig Zuflucht sucht in einer überhöhten Verbindung mit René Kaiser, ihrer „besten Freundin“ – „der Kaiserin“, die mit ihrem Geständnis alle Unterstellungen überbietet. Justus von Dohnányi spielt einen grandiosen Vermeider und Versöhner, einen nicht-leiblich Verwandten nicht allein seiner Seelenschwester Elisabeth, vielmehr auch Bruder von Thomas und Stephan. Alle wuchsen zusammen in äußerster Konzentration aufeinander auf.
Zu Elisabeths Biografie gehört ein westdeutsches Motiv akademischer Ehen. Dreimal habe ich die Geschichte vom Promotionsverzicht gehört. Die im Verhältnis zum Mann geringere Qualifikation der Frau ergibt sich in dieser Erzählung aus einem Opfer, das die Frau dem Mann in der Familiengründungsphase gebracht hat. Damals war ein Ausgleich versprochen worden, auch dieses Versprechen wurde gebrochen. Im vorliegenden Fall ist es sogar Elisabeths angefangene Doktorarbeit, die sich Stephan unter den Nagel einst riss, „weil in diesem Haus ja nichts verschwendet wird“, wie Elisabeth in ihrer Wut am Wahrheitsabend aussagt. Auch so wird Stephans Geiz angesprochen. Der „Pseudointellektuelle“ dampft Edeletikette von Flaschen und pappt sie auf seine Aldierrungenschaften.
Kommt man ihm mit Geiz ist geil, geht unter die Decke seiner etymologischen Vorsprünge.
Stephan kontert die Bloßstellung und am Ende haben alle ihr Fett abgekriegt. Wortmann bebildert Ereignisse, die in einer Eskalation ihre Vorhersehbarkeit verlieren. Der Abend entgleist fahrplanmäßig und stürzt in einen unvorhergesehenen Abgrund. Die zwanghafte Mittelpunktpersönlichkeit Thomas hat ohne Abitur ein Vermögen gemacht. Thomas bringt den von sich selbst zum Speien eingenommenen Stephan gern auf die Palme. Florian David Fitz spielt den Smarten. Er ist der Hecht im Karpfenteich.
Thomas gefällt mir am besten. Er hat überhaupt keinen schweren Stand gegen Stephan, den er, und das bringt den Wahrheitsabend in Schwung, mit der Behauptung entzündet, seinen in den nächsten Wochen zur Welt kommenden Sohn mit politisch korrekten Absichten Adolf nennen zu wollen. Seine Freundin sitzt bei diesem Familienkrimi am Katzentisch. Janina Uhse spielt eine Schauspielerin, die sich selbst ernstnehmen muss, weil es sonst keiner tut. Als einzige kennt sie die anderen nicht von Kindesbeinen an. Ihre Rolle im Ensemble ist undankbar. Sie dient als Beifang und muss ihre Chancen in wenigen Szenen nutzen. Das gelingt ihr und diese Feststellung gilt gleichermaßen für die Figur und ihre Darstellerin.
„Der Vorname“, Deutschland 2018. Regie: Sönke Wortmann. Mit Iris Berben, Caroline Peters, Janina Uhse, Christoph Maria Herbst, Florian David Fitz, Justus von Dohnányi