Filmtagebuch einer 13-Jährigen #17: 3. Terza Visione

Das 3. Terza Visione fand vom 1. bis 3. April 2016 in Nürnberg statt. Kuratiert wurde dieses Festival des italienischen Genrefilms von Christoph Draxtra und Andreas Beilharz, die auch die berühmten Hofbauerkongresse machen. (Hier mein Bericht über Terza Visione 1 (2014) und über Terza Visione 2 (2015).)

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Vier Fliegen auf grauem Samt /Quattro mosche di velluto grigio (Dario Argento, 1971)
Mimsy_Farmer_en_LMVs (7)Ja, dieser Film versteht, was ich an der TV-Serie „Verbotene Liebe“ so gern mochte! Die junge Frau hier sieht sogar fast aus wie Stella, Carla von Lahnsteins aparte Geliebte in VL. Ein Wunderwerk der Hysterie, ein Tier in grellen Warnfarben, das, als es in die Enge getrieben wird , die Schuld an ihrer Amoralität einfach ihren unschuldigen Eltern in die Schuhe schiebt, weil die sich statt ihrer einen Sohn gewünscht haben. Aber alles in dem Film ist so – so unrealistisch, kunstvoll pulpig und nicht logisch; jeder zaubert sein Kaninchen aus dem Hut hervor und performt stolz seine Privatmoral.P1020518a Der Detektiv prahlt mit seinen Misserfolgen, sie flunkert sich die Seele aus dem Leib, und in der Szene im Bild oben erzählt der junge Protagonist Bud Spencer gerade von der akuten Lebensgefahr, in die er unschuldig wie ein Slapstickpechvogel hineingeraten ist. „Und darüber regst du dich auf?“, fragt Bud Spencer müde. Mit einem Schlag entspannt man sich. Er hat ja Recht. Auch was den Dreck betrifft, in dem man mitunter selber steckt. 9/10

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Carne (Armando Bo, 1986)
Große, nackte Brüste wie auf obszönen Bildern, die man in bekleckerten Heftchen im Wald findet. Tag für Tag schuftet Isabel Sarlí im engen Arbeitskittel im Schlachthaus: Ausbeutung und Rebellion sind das heimliche Thema dieses Festivals. „Carne“ gehört aber nicht zum Programm. Es läuft, zwischen den Filmen, im Kinobüro auf dem Computer, während ich mich mit Christoph unterhalte. Hinter Christophs Schulter stakst die spektakuläre Frau, die gerade in einer Rinderhälfte vergewaltigt wurde, vorstädtische Autostraßen und Bahngleise entlang – skandalös, wie ein Schrei. Manche filmen Städte, und es prickelt. Andere tun das Gleiche, und es tut sich nichts. Wie kommt es, dass eine Straße so aufregend aussieht als wäre man verliebt und das Leben in Bewegung? Die Figuren werden aus der Umgebung geboren; sie verdichtet sich in ihnen, bekommt eine Geschichte, einen Mund, zwei Brüste. 10/10

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Atlantis Inferno/I predatori d’Atlantide (Ruggero Deodato, 1983)
Auch in Atlantis: Ausbeutung, Versklavung. Unter dem Meer müssen Sklaven eine Luftmühle antreiben. Sie können nicht fliehen, weil sonst den Kollegen der Sauerstoff wegbleibt. Wer seine Freiheit durchsetzt, macht sich schuldig. Irgendwann sprengten sie trotzdem den ganzen unterirdischen Betrieb, und wundersamerweise überleben alle. Es sieht umwerfend freudig aus, wie sie über die Befreiung jubeln. Luftmühle und die bösen Endzeitpunker erinnern mich an Fury Road, den einzigen Mad Max, den ich kenne. Atlantis gefällt mir aber besser. Auf dem Bild: Stararchäologin Dr. Cathy Rollins. 7/10

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Sieben gegen alle/Sette contro tutti (Michele Lupo, 1965)
Auch hier wollen geknechtete Männer nicht mehr tun, was man verlangt. In einem großen Moment der Solidarität und Mitmenschlichkeit weigert sich ein Gladiator in der Arena, den besiegten Gegner zu töten. Andere schließen sich ihm an, aber ihr Aufstand wird niedergeschlagen. Sie kommen in ein fröhliches Gefängnis halbnackter, verschwitzter und verschmutzter Muskelmänner. Ein lustiger, kleingewachsener Mann versorgt die strahlenden, verspielten Kerle in ihren Käfigen und Ketten mit Lebensmitteln; später reitet er auf einem netten Pony. Ihre Revolte absolvieren die Helden so akrobatisch und unbeschwert wie Balletttänzer; es schert sie nicht, naiv und sogar weiblich dabei rüber zu kommen. Regisseur Cozzi drehte auch den entzückenden „Starcrash“ mit einer verwegenen Frau in der Hauptrolle. Hier fällt es vor lauter bunt herumtollenden Männern zuerst gar nicht auf, dass es hier nur ein einziges Mädchen gibt. Eine Prinzessin! Juwelengeschmückt, in Tuch gehüllt wie eine Kostbarkeit, übernimmt sie von ihrem Vater das Königsamt. Bei ihrer Antrittsrede lobt sie ihn für seine Weisheit, ihr einen helfenden Mann zur Seite zu stellen. Wenn man so grundfaul ist wie ich, stört einen das weniger als es vielleicht sollte. 8/10

P1020462 In der Sebaldkirche in der Nürnberger Altstadt wachsen schlafenden Männern Bäume voller Wappen aus den Bäuchen. Das passt zum nächsten Film:

Malizia (Salvatore Samperi, 1973)
Ein Schneider und seine drei Söhne waren einmal eine anständige Familie. Dann aber starb die Schneidersfrau und stellte auf dem Sterbebett eine liebreizende, junge Haushälterin ein: Laura Antonelli! Ein sehr, sehr nettes Mädchen, süß, flirrend und melodisch. Sie ist sehr entgegenkommend, auch aus Neigung, über alle Normen hinweg. Sie lässt sich sexuell und menschlich zu vielem überreden, nur: wie dann da wieder raus? Die Leute, mit denen sie sich arrangieren muss, sind hinter ihren kleinbürgerlichen Fassaden wilde, rabiate Wesen.

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Sogar der Kleinste, der vom Leben nichts als Spiele will, und sich ärgert, weil er sie für die Beerdigung der Mutter unterbrechen muss. Die strenge, streng riechende Oma, die immer will, dass alle schweigen. Und all die vielen anderen – gierig, schamlos und bedrängend sexuell. Die damenhafte, lüsterne Kundin mit ihrem verführerischen Likör. Der „hysterische“, liebeslustige Backfisch. Der zappelige Vater. Der lilienschöne, pomadige Älteste. Und der herrschsüchtige, manipulative mittlere Sohn, fast noch ein Kind. Er kommt nicht klar mit seiner Lust und wird deshalb gemein zu ihr, erzählt der Film („Er ist kein schlechter Mensch. Er ist nur boshaft.“) Doch eines Nachts, in einer schönen, flackernden und blendenden Gewitter- und Taschenlampenszene, sind sie allein zuhause… 9/10 (Hier geht es zu der Filmbesprechung meines Kollegen Udo Rotenberg auf seinem Blog „L’amore in città“).

Kochender Schlamm/Fango bollente (Vittorio Salerno, 1975)
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Joe Dallessandro sieht dem jungen Robert de Niro ähnlich. Beide fand ich früher anziehend, so lange ich sie nur von Fotos kannte. Aber in den Filmrollen, in denen ich sie dann gesehen habe, macht sie Ihr übertriebenes Mann-Sein-Wollen unangenehm angespannt und verschlossen. Joe und seine Kollegen arbeiten in einem modernen Laborbetrieb. Sie machen Verhaltensexperimente mit Käfigtieren, die einander zerfleischen, wenn man sie aus der Folter ihrer Gefangenschaft entlässt. So fühlen sich auch Joe und seine Freunde. Bis in ihr Privatleben hinein ist alles kalter, ehrgeiziger, langweiliger Funktionalismus. Anders als viele andere Helden dieses Festivals, wählen sie nicht den Ausweg lebensbejahender Rebellen, sondern werden zu sadistischen Terroristen, narzisstischen Serienmördern, die das System und sich von innen her zerstören. Sie betrachten das als ihr philosophisches Experiment (ein bisschen wie in Dostojewskis Schuld und Sühne) und nehmen dabei auch den eigenen Tod billigend, sogar absichtlich, in Kauf. Ein harter Film. Nicht wirklich meins, aber interessant. 7/10 (Hier geht es zu Udo Rotenbergs Text – danke für den Screenshot – und hier zur Filmbesprechung meines Kollegen Oliver Nöding auf seinem Blog „remember it for later“)

Später, zwischen den Filmen, sitze ich auf einer Bank beim Fluss in der äußerst idyllischen Nürnberger Altstadt und versuche, ich zu sein und aus der Wäsche zu gucken. Eines Tages werde ich eine jener Frauen sein, die ihre Pfleger am Ärmel zupfen: „Ich weiß nicht, was das alles ist!“

In Nürnbergs vielen Kirchen, Museen und Antiquitätenläden werden historische Kunst- und Volkskunstwerke mit viel Achtung und Liebe gepflegt und gezeigt. Viele Zeiten und Stile sind hier gegenwärtig. Ich mag das gern an dieser wunderlichen Stadt. Ein Festival wie „Terza Visione“ passt dazu. Denn auch die Schönheit dieser Filme ist fragil. Sie haben, wenn sie in Nürnberg ankommen, schon viele Risse, die von früheren Vorführern oft unprofessionell verklebt wurden. Wie schlecht verarztete Patienten sehen sie oft aus, voller gammeliger alter Pflaster und sich lösender dreckiger Mullbinden. Und je älter sie werden, um so mehr lösen sie sich auch chemisch auf. Besonders schlimm hat es das Folgende dieser lichten Gebilde getroffen. Christoph musste ihm mehr als hundert Stunden lang den Goldstaub auf den zerrupften Schmetterlingsflügeln wiederherstellen, bis es wieder auf die Leinwand schweben konnte. Meine Kollegin Katrin Doerksen hat bei kino-zeit über diese Arbeiten geschrieben. Christoph hat den Film zudem zärtlich, gewitzt und ausgesucht melodisch untertitelt:

Cristiana, die Besessene/Cristiana monaca indemoniata – La vocazione (Sergio Bergonzelli, 1972)
Es beginnt als burleske Humoreske, wie eine zierliche, tragikomische Oper. Puccini fiel einem Kollegen ein – Wohlklang und Süße, und dann Traurigkeit. Alles fließt, sonnenwarm. Das junge Mädchen Cristiana schläft in einem Flugzeug mit ihrem Freund, vor den Augen der anderen Passagiere, in unbefangener, glücklicher Obszönität. Da stürzt das Flugzeug ab. Der Film lässt das putzig aussehen, wie einen Trick in alten Kinderfilmen. Cristiana schwört, eine Nonne zu werden, wenn der Flieger sich wieder fängt. Was prompt geschieht. Ihr Gelübde verschlägt sie in ein zauberhaftes Kloster. Alles ist heiter, blumig, frühlingshaft. Die netten Nonnen sind besorgt, Cristiana könne sich hier langweilen und erlauben es ihr, einem Künstler Modell zu sitzen. Er malt furchtbar, aber er selber ist interessant und erotisch. Auch ein Freund aus alten, wilden Tagen kommt sie besuchen. Christiana versteckt ihn im Glockenturm. Das gefällt dem Räuber. Während er sie liebt, läutet er die Glocken mit den Füßen. Das hätte mir auch oft gefallen, einen Mann irgendwo verstecken zu können, der nicht in mein reales Leben passt.
Doch er schläft auch mit ihrer Freundin, einer anderen Novizin. Ein „Verrat“, gemäß der konventionellen Lesart. Obwohl Cristiana ein Freigeist ist, so lange es um sie geht, reagiert sie, wie es leider naheliegt: engherzig wie irgendwer. Freund und Freundin wollen sie beruhigen. Sein Herz sei groß, beteuert er, da passten viele rein; Freiheit, Liebe, Freundschaft, sie könnten das doch alles mit einander haben! Nichts zu machen. Riesenaufstand. Sie wirft seine Sachen aus dem Fenster, verlässt erbost das Kloster, steigt aus ihrem Paradies hinunter in eine dunkle, banale Realität.
Ihre Mutter ist Prostituierte, unten in der Stadt. Cristiana kehrt zu ihr zurück und tritt in ihre Fußstapfen. Verkauft sich als Attraktion, mit forciertem Spaß an der Blasphemie. Sie ist ja eine veritable Nonne; die Männer überbieten sich. Leute von früher begegnen ihr wieder, doch alle wirken nun schal, entzaubert, zynisch und gelangweilt. Sie hält trotzig daran fest, genau so wolle sie jetzt leben.
Zu dem Titellied, das so schön mit dem Film verschmilzt, fährt sie mit ihrem Auto an eine Klippe heran. Die Freunde folgen ihr; das Blau ihres Autos strahlt in der farbschönen 35mm Kopie fast überirdisch, wie ein tropischer Schmetterling. Am Filmanfang hat Christiana aus Liebe zum Leben inbrünstig gebetet, ihr Flugzeug möge nicht abstürzen. Nun fährt sie ihr Auto in den Abgrund. 9/10 (Hier geht es zu Udo Rotenbergs Filmbesprechung und hier zu der von Oliver Nöding).

Wie leben? Mit Liebe und Abenteuerlust, suizidalem Zynismus, „scheinheiliger“ Bürgerlichkeit? Wie Serienkiller (Fango), Rebellen (Atlantis, Römer), Kloster- und Rotlichtmenschen (Christiana), Künstler (Vier Fliegen), sexuell Freigiebige hinter spießigen Fassaden (Malizia)?

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LSD – Paradies für 5 Dollar/Acid – delirio dei sensi (Giuseppe Maria Scotese, 1967/68)
Als Kind in den Sechziger/Siebziger Jahren, als Automatisierung und Rationalisierung uns eroberten, sah ich die Welt wie durch die Augen dieses Films. Die vom Geschmack und den Bedürfnissen des Geschäftslebens geschaffenen neuen Gegenden und Räume kamen mir unverwandt vor, grausam und verschlossen. Auch die abgehängt herumtrudelnden Jugendlichen, die in diesem Film aufgrund der Drogen alles doppelt, dreifach, blumenkohlvervielfacht sehen, kommen da nicht rein. Das vielgefeierte, mystifizierte, verheißungsvolle New York ist in der nüchtern dokumentarischen Wirklichkeit dieses coolen, collagenhaft löchrigen kleinen Films leer, glatt, seelenlos – nur eine große Shopping Mall. Und der Springbrunnen zu Füßen der Hochhäuser, wo sich das highe Mädchen nackt auszieht, ist aus Absicht so flach, damit Leute nicht drin baden können. Als sie es dennoch tut, eilen Polizisten herbei und zerren sie wieder heraus, wie irgendwo in Aachen. Die Manhattan Bridge ist brutalistisch wie in einem deutschen Autorenfilm; der unerbittlich vorbeidonnernde Verkehr beachtet die Menschen nicht. Und die Gegenkultur in Greenwich Village ist zwar nett, aber kaum aufregender oder wichtiger als etwa das Luxemburger Viertel in Köln. Man hat den Eindruck, man muss nirgendwo mehr hin, wo sie von sagen, es sei toll und wichtig. Anfangs, wenn sein Stil noch deutschen „Report“-Filmen ähnelt, besucht der Film eine junge Reporterin vom „Village Voice“ in ihrem kleinen, straßenebenen Büro. Dann geht man mit zu einer Party in einem Loft im Viertel. Es ist eine „Feuer-Party“; Anzugmänner feuern frenetisch Frauen beim Limbotanz über Kerzen an, weil sie sich dafür die Säume ihrer Minikleider (Lurex!) immer höher raffen müssen, damit sie nicht in Brand geraten. Die Leute auf dieser kleinen Party sind die ersten und einzigen, die in diesem Film etwas finden, womit sie Spaß haben können. Ein Pärchen, dem das aber zu dumm ist, stiehlt sich raus, über die Feuertreppe. „Wohin?“, fragt er. Sie: „Such du aus. Du bist doch der Mann.“ Und er, gutaussehend, aber teilnahmslos, führt sie ausgerechnet an seinen Arbeitsplatz, ein tristes Managerbüro in einem Wolkenkratzer. Und dort wissen sie dann nicht mehr weiter. (Jemand hat ihm gesagt, sein Vorgänger sei wegen seiner homosexuellen Neigungen ausgewechselt worden; dem Feuerpartyflüchtling wird später das gleiche geschehen. Ich glaube, Coming Outs sind in diesem Film eine Folge der Wahrheitsdroge LSD. Ich bin mir nicht ganz sicher, weil sich der Film manchmal mit Fetzen von Träumen vermischte. Was ich aber liebe.) 9/10 (Hier geht es zur Filmbesprechung von Oliver Nöding).

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Drei Pistolen gegen Cesare/Tre pistole contro Cesare (Enzo Peri, 1967)
Eine junge Frau Holle in einem blitzsauberen, himmelblaues Kleid und gestärkter Haube kocht drei Brüdern – einem netten, lustigen Chinesen, einem eleganten, sophisticated französischen Hypnotiseur und einem misstrauischen, aber als hübsch durchgehenden Muffel – ein unglaublich lecker aussehendes Gulasch. Die drei sind auf der Suche nach ihrer wahren Schwester und einer ererbten Goldmine und verfallen dieser märchenhaften Köchin. Sie ist aber gar nicht ihre Schwester. Sie ist die listige Verbündete des Schurken Cesare, der in seinem dekadenten römischen Palast im Wilden Westen Ränke schmiedet. Frau Holle und Cesare wollen den Brüdern ihre Erbschaft abluchsen. Die wahre Schwester der drei Helden ist eine reizende, selbstbewusste und sehr schön singende Bardame, Medi (Delia Boccardo), die süß schief lächelt und sich so lässig, weich und tapsig wie ein Fohlen bewegt. Schöne, zierliche Kleidung tragen italienische Westernmänner und – ladies; das fiel mir auch schon in „Matalo“ (Terza Visione 1) und „Ringo kehrt zurück“ (Terza Visione 2) auf. Auch die Pferde sind hübsch, und das Bett aus purem Gold. Und die Musik! Das Titellied mit seinen entzückend erzählerischen Fragen, den im Flüsterton beginnenden, dreistimmigen Antworten und dem jauchzenden, seufzenden Schmettern Don Powells, das wild über allem fliegt wie ein verwegener großer Raubvogel! 9/10 Hier geht es zu der Filmbesprechung meines Kollegen Udo Rotenberg, dem ich auch für die Screenshots danke.

Nach diesem Film gingen wir zum Restaurant „Kuchlbauer“ und setzten uns auf die Veranda. Tim (Pseudonym) war auch dabei. Ich hab ihn kennen gelernt, als er sich beim letzten Hofbauerkongress neben mich setzte. Er brachte damals einen großen Teller aus dem Kinocafé mit in den Kinosaal. Er legte ihn behutsam und wohlüberlegt auf dem Sessel ab und platzierte beim Hinsetzen vorsichtig seinen rechten Oberschenkel darauf. Dann holte er gelassen einige Tütchen Salz aus seiner Jackentasche hervor und streute sie sich dick auf seinen Oberschenkel. Auf meine verwunderte Frage antwortete er freundlich, er habe sich einen Rotweinfleck auf seine Hose gemacht, aber gehört, dass Salz das wieder aufsauge. Der Teller wiederum solle das rotweinfeuchte Salz auffangen, wenn es herunterfällt, damit es nicht den Sessel versaut. Ich musste staunen. Was für ein umsichtiger Junge! Es ist nicht allen alles scheißegal oder ein unentrinnbares Unglück.

Da mich das Gulasch im Western vorher hungrig gemacht hatte, bestellte ich mir beim Kuchlbauer einen Braten. Nachher ging ich zur Theke und sagte dem Wirt, ich hätte jetzt gerne einen Fernet zu Verdauung, denn ich esse eigentlich sehr selten Fleisch, aber nun habe ich ein ganzes „Schäufele“ (ein großes Stück Schweineschulter, Nürnberger Spezialität) samt Kartoffelklößen und Krautsalat mit Speck verdrückt. Ein fremder Mann am Nebentisch hatte das mitgehört und applaudierte mir.

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Kameliendame 53/Traviata ’53 (Vittorio Cottafavi, 1953)
Melodramen hießen früher in unserer Familie schlicht „Liebesfilme“, und die Männer scherzten gern, wenn ihre Frauen da verweint rauskamen. Ich mochte sie als Kind und nahm sie ernst. Ich schwor mir, wenn ich eines Tages in ähnliche Situationen käme, ebenso großherzig und edel zu handeln. In „Traviata“ stehen Menschen im Mittelpunkt, die ihre Ergriffenheit voneinander dazu bringt, über sich hinauszuwachsen. Sie springen über Schatten, überwinden Konventionen und strenge Regeln darüber, wie eine Liebesbeziehung auszusehen hat und wie treu und anständig der andere sein müsse. Der Held hat für seine Liebe zur Heldin seine Familie verlassen. Dann erfährt er, dass sie die bezahlte, abhängige Geliebte eines reichen Mannes ist; die beiden können gar nicht mit einander leben. Einen Moment lang tickt er aus. Dann bittet er sie um Vergebung. Sie habe ihm ja nie falsche Versprechungen gemacht. Von da an gibt es keine Vorwürfe oder bohrende Gespräche mehr. Diese innige Liebe zu einer schwierigen Frau erinnert mich an Tourneurs „Cat People“. Dieser Film hier sieht ihm auch optisch vage ähnlich, aber er ist verhaltener, gleichsam japanischer, in einem überirdisch schönen, flirrend tiefenscharfen, tragischen Schwarzweiß. Man hält den Atem an ob dieser Dinge – Autos, Omnibusse, Schaufenster, die mit schmerzlich schöner Deutlichkeit durch ihn ziehen wie durch jemanden, der fürchtet oder weiß, dass er bald sterben wird. Der Ton war leise eingestellt, aber das passte. Als der Held vom Tod seiner Geliebten erfährt, gibt es, absichtlich, minutenlang gar keinen Ton. Wie in Watte gepackt, beobachtet man mit ihm, wie mit fachmännischem Handwerk ihr Sarg versiegelt wird. 9/10 Hier geht es zu der Filmbesprechung meines Kollegen Oliver Nöding. Und vielen Dank an Christoph Huber für die schöne Einleitungsrede.

Bevor der Film begann, war einer Freundin während des Festivals schlecht und taumelig geworden. Ein schauspielerinnenhaft gekleidetes Mädchen, schön geschminkt, in flamboyanten Second Hand Ballkleidern und hohen Schuhen, das nicht wusste, was mit ihr war und vor Angst zitterte. Der Notarzt kam, sie kam ins Krankenhaus, ich musste mir den ganzen Film lang vorstellen, La Traviata, das sei sie.

Berichtet haben über das Terza Visione 3 außer den bisher Erwähnten auch meine lieben Kollegen: Alex Klotz bei „Hypnosemaschinen„, Thomas Groh beim „Freitag„, Mauritia Meyer bei „schatten-lichter“ und Maulwurf bei „italo-cinema„.

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Über den Autor

Silvia Szymanski, geb. 1958 in Merkstein, war Sängerin/Songwriterin der Band "The Me-Janes" und veröffentlichte 1997 ihren Debutroman "Chemische Reinigung". Weitere Romane, Storys und Artikel folgten.

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