Filmtagebuch einer 13-Jährigen #12: 13. Hofbauerkongress
Von Silvia Szymanski // 30. August 2014 // Tagged: Angst im Kapitalismus, Beat, Busenstars, Deutsches Kino, Erotikfilm, featured, Italien, Schlager, Sexploitation, Sexualberatung, Skandinavien, Teenager // 3 Kommentare
24. – 27. Juli 2014, Nürnberg und Fürth
Seit ich Filme für unser Buch über die schwulen amerikanischen „Golden Age“ Pornos der 1970er/80er Jahre schaue, kommen mir Handwerker, Bauarbeiter, Trucker oder Polizisten vor wie Filmstars. Außen an der Autobahntoilette füllte ein halbnackter Fernfahrer am Wasserkran einen Kanister und ließ sich Wasser über die Arme laufen; seine Kollegen lagerten lässig bei ihren großen Lastwagen. Auch die riesige Autobahnbaustelle, an der wir entlangfuhren: Männer in geordneter Verwüstung. Futuristische Landschaftsgärtner mit uniformen Overalls, Sichtschutzhelmen und Geräten wie Minensucher mähten eine Böschung. Auf Nürnberg zu gehören zur sommerlichen Wildvegetation, anders als bei mir zuhause, Karden und Pastinaken.
Das Treppenhaus des Hotel „Continental“ hat immer noch die seriösen weiblichen Rundungen, massiven Metalleinfassungen und seidig polierten Handläufe öffentlicher Gebäude der 50er Jahre. Wir sehen diese gediegene Innenarchitektur auch manchmal in den Kongressfilmen. Weil es in der Biegung zwischen zwei Etagen ein großes Dekorationsschaufenster hat (mit Weltkarte und zwei Dürerhasen), dachte ich, das sei einmal ein Kino gewesen. Aber das Haus ist schon seit hundert Jahren ein Hotel.
Die langen Spitzengardinen in meinem Zimmer spielen hübsch mit dem Licht. Das Deko-Tulpenfoto spiegelt sich im Spiegel. Das hochsommerliche Trippeltrappel und Geplapper von der Fußgängerstraße und der Baustelle vor dem Fenster… filigrane, reiche Geräusche, gedämpfter Hall. Als Katze würde ich jetzt schnurren. Diese Tage wurden außergewöhnlich schön.
Holiday in St. Tropez (Ernst Hofbauer, 1964) Früher hingen im Sommer überall Plakate der saisonalen Speiseeispersönlichkeiten Vor den Drogerien jubelten Gummitiere, Bälle, Badekappen. Transistorradios plärrten verrückte Schlager. Sommerferien! So ist dieser Film. Ein Rabattenblumenmeer.
Das Hotel St. Tropez stellt sich als verlassene Bauruine heraus; die Urlauber können nur noch den Arbeitern nachwinken, die als zukünftige Gastarbeiter singend Richtung Deutschland fahren. Nun müssen sie improvisieren, im Rohbau und in Zelten schlafen und sich selbst versorgen. Das eint sie und macht Spaß. Man ist in vielerlei Hinsicht „im Freien“. Bürgerlichkeit lockert sich. Erinnerungen an glückliche Nachkriegserfahrungen, der Lebensstil der neuen Urlaubsländer, der Geist von Pop und Beat: Regeln werden nur halb durchgesetzt und halb vergessen; Lebendigkeit kommt durch. Auf den Bikinis der jungen Mädchen kräuseln sich die Rüschen vor Freude. Ein kleiner Junge klaut ihnen die Oberteile. Sein Vater verspricht den anderen Erwachsenen, dass sie ihn verhauen dürfen, aber das ist alles nicht ernst. Auch Hannelore Auer ist nicht sauer, weil ihr die Jungs in „St. Tropez“ nachlaufen. Selbstbewusst stolziert sie vor ihnen her. Als Kinder sie an einen Marterpfahl fesseln, ist sie genauso sexy, amüsiert und obenauf. Man kommt nicht drüber weg, dass sie und Heino… Ehegeheimnisse deutscher Trivialkultur.
Ann Smyrner hat zum Männerfang hochstaplerisch ein weißes Sportcoupé gemietet. Auf der Straße zieht ein kleines Auto mit ihr gleich: Teddy Parker schmettert ihr strahlend zu, dass er, anders als sein Rivale Jack, nicht ein weißes Sportcoupé fährt, um Mädchen aufzureißen. „Jack liebt schnelles Fahren, und du bist unerfahren, doch ihm kommt’s immer nur aufs Tempo an. Er kommt schnell in Fahrt, doch ein Mann von seiner Art fährt auch schnell woanders lang, weil er sich nicht bremsen kann!“ Der männliche Sexualtrieb will gelenkt sein und gebremst, „sonst kommst du schon morgen mit deinen Sorgen zu mir“. Das werden Hans Hass Jr. und Benny aus „Eis am Stiel“ auch so sehen. Wie sollen Männer sein? Was wollen Mädchen? Wir kommen noch darauf zurück.
Für Hans Billian, der hier das Drehbuch schrieb, sind Frauen wilde, lustige Abenteurerinnen und Draufgängerinnen, in denen die Lust auf Männer sich über alles hinwegsetzt und „männliche“ und „weibliche“ Eigenschaften übermütig und frivol mit einander toben. Auch in den enthusiastischen Refrains der Teenie-Schlager prickelt die Energie der sexuellen Revolte. Nur die Männer sind noch nicht ganz da. Der seltsame Mr. Ackerbilk mit seiner Melone und der „weit ausholenden Klarinette“, wie Sebastian Selig lustig schrieb, driftet losgelöst und einsam lächelnd an allem vorbei… Irgendwie reizten konservative Engländer wie er damals die Leute. Ich erinnere mich an viele Starletfotos in der Bravo oder Quick, auf denen heiße Beatmädchen steife Bobbys, Gentlemen und Queen’s Guards wie lustige Kobolde umschwänzelten. Ich glaub, man fand sie rührend und verklemmt und hatte Lust, sie aufzutauen. Der Flic, der im Restaurant sein weißes Stöckchen schwingt, ist auch so ein erstarrter Mann: „Große Liebe war es nie, das weißt du ja“, singt er, der Eiskunstläufer Manfred Schnelldorfer,“aber immer bin ich für dich da.“ Das hält den Ball so traurig flach. Auch sein Gesang weiß nur um Grenzen. Und der jungenhafte Gerd Vespermann hat sich sexuell kaum ansprechbar verpackt in einen übergroßen braunen Anzug und seine komische Rolle als Reiseleiter Kussmaul.
Dann schaut man eben statt auf Männer auf die tollen Reklameposter in Kussmauls Büro. Oder die Damenmode. Vivi Bach trägt ein seidig schimmerndes, nilgrünes, leinenes Etuikleid mit großem, rosarotem Blumendruck über ihrem zierlichen „Figürchen wie ein Hürchen“ und der Taille, die „ein Mann mit Händen ganz umfassen kann“ (Dinge, die ich Männer in den Sixties habe sagen hören). Einmal werden anzüglich kirschengeschmückte Eisbecher serviert, die ihren spitzen, hohen Mädchenbrüsten ähneln. In naiver Freude an der Vielfalt nationaler Stereotypen (es gab „7-Länder-Spezialitäten“-Pralinen und das kokette Länderquiz „Einer wird gewinnen“) schrieb man Skandinavierinnen wie ihr fröhliche Natürlichkeit in sexuellen Dingen zu.
Mit dieser Unbekümmertheit begegnet Vivi einer der anderen weiblichen Augenweiden dieses Films: Margitta Scherr, Tochter reicher Eltern. Zu Hause haben sie eine lange, protzige Villa. (Allerdings scheinen sie eher mit den Gartenmöbeln auf dem Rasen dahinter zu wohnen; der Film nutzt das Sommerwetter an seinem Drehort Kroatien, um gar nicht erst in Häuser rein zu müssen.) Scherr will ihre karrierebesessenen Alten zur Besinnung bringen und reißt aus, damit sie sich um ihr Gammelmädchen (bzw.„Sumpfblume“, wie sie sich selber nennt) sorgen. Auf der Suche nach einem Platz zum Pennen steigt sie nachts durchs Fenster in den Rohbau, in dem Vivi schläft. Es ist wie in einem Kinderbuch, wenn der verzauberte Rabe das kleine Mädchen besucht. Fasziniert lauscht Vivi der verwirrend burschikosen Rebellin. Eine verschworene Stimmung von zwischenweiblichem Sex kommt auf, zauberhaft und flüchtig, wie der nächtliche Duft von Goldlack, Nachtkerze und Geißblatt. 9/10
Bernd Brehmer vom Werkstattkino München hatte Scopitones mitgebracht, die er auf dem Kongress zeigte: 60er Jahre Musikclips, die in besonderen Musicboxen in einem kleinen Monitor liefen, in manchen Lokalen, besonders in den USA und Frankreich. Tolle Dinger. Ich verlinke hier ein paar. Sylvie Vartan, Danyel Gerard, Debbie Reynolds, Barbara McNair, Bobby Vee. Was für ein verrückter Glanz. Da wollten wir hin: wo die Musik herkommt. 10/10
Drei Schwedinnen in Oberbayern (Siggi Götz, 1976) Drei blonde Mädchen mit abba-haftem Gruppengeist und einer Sprache als stießen kleine Zungen zierlich gegen Kieselsteine, werden von einem Bayern aus ihrer skandinavischen Disco in sein Land gelockt. Dass er dann eine von ihnen bei einer Versteckaktion mit einem Affen-Schwung nackt unters Bett schubst, erfüllte feinfühlige Männer im Publikum mit jähem Mitleid und Zorn auf die Regie. Sie ist in dem Moment zwar eine Schaufensterpuppe, aber das Menschenbild ist natürlich trotzdem völlig burlesk. Alle sind wie Flummis und hopsen mit wütender Verve durch unzählige filmgewordene, dralle Partywitze. Hintern hoch, die Bowlingkugeln sausen durch, ständig ist was los in diesen Wimmelbildern, alles voller Kettenreaktionen und Girlanden, und irgendwann… sträubt man sich nicht mehr. Am Ende versinkt man in Beate Hasenaus großem, weichem, vibrierendem Gesicht, in einem magischen Moment, als sie der Kamera ihre Schlafzimmertür öffnet. Voll des Lobs sind ihre glitzernden, tief befriedigten Lippen über den Mann, mit dem sie diese Liebesnacht verbracht hat – Jacques Herlin, der kartonweise eiervertilgende Typ mit der dreckig-eruptiven Lache, die in dem Film so oft zu hören war. Ja, man vertut sich. Man vertut sich oft. 8,5/10
Vanessa (Hubert Frank, 1976) Wie in den schönsten erotischen Heftchenromanen, so zersetzen auch hier die Tropen das Gemüt der weißen Frauen. Sie lassen sich auf Dinge ein, an die zuhause nicht zu denken wäre. Die Hitze öffnet ihre Schenkel – das sagt der Film sogar zweimal. Lernen sie sich jetzt erst richtig kennen? Gehen sie sich selbst verloren? Es ist so schwindlig, schwer, so schwül und rauschgiftsüchtig.
Das Waisenkind Vanessa (Olivia Pascal) wächst in der sadistisch winterlichen Kälte eines Klosterinternats auf. Die Nonnen züchtigen sie pervers, die zärtlichen Mitschülerinnen Mädchen sind Vanessas einzige persönliche erotische Erfahrung. Sie interessiert sich gar nicht so sehr fürs Sexmachen, sagt sie. Nur als Zuschauerin und Leserin. Sie besitzt einen Bildband über die obszönen Wandmalereien in Pompeij, und auf ihrem Nachttisch liegen – Titel nach unten – schlüpfrige Veröffentlichungen aus den Verlagen DTV und Fischer. Sex geht durch ihre Augen und die Seele, ohne ihren Körper zu berühren. Wie bei uns, wenn wir die Filme gucken.
Um die Erbschaft ihres Onkels – eine Bordellkette in Hongkong – anzutreten, reist Vanessa in ihrem schönen, herbstlichen, taillierten Samtanzug mit passendem Beret in eine undurchschaubare, dekadente, raffinierte Welt. Es gibt hier grausame Spezialtische zum Verzehr lebendiger Affenhirne gleich aus dem gekappten Schädel (ist das wirklich nur ein Scherz, wie man ihr sagt?) und Vorrichtungen, um Frauen zum Auspeitschen aufzuhängen. Leidenschaftliche Menschen stechen Voodoopuppen Nadeln in den Unterleib, so dass weit weg jemand verletzt zusammenbricht. Aus den Säcken auf einer Empore rinnt Reis wie Wasser, darunter gebärdet sich ein nacktes chinesisches Mädchen wie ein läufiges Tier, das den Verstand verloren hat. Der Mann, an dem sie hörig klebt, sagt etwas sehr Verächtliches zu ihr. Kostbare Mosaiken, heidnische Götterbilder. Einer der weißen europäischen Herrenmänner und Sadisten Hongkongs zeigt Vanessa die wimmelnden Ladengassen eines verrufenen Viertels. „Sind das Verbrecher?“, fragt sie ihn. „Nein, die Verbrecher sind HINTER den Läden.“ Es ist etwas hinter allem. „Das dort ist ein Puff für Frauen“, sagt er. Das muss sie sich allein ansehen. Gesammelt und sehr schön sitzt sie dort an einem Tisch vor einer Phalluskerze. An den Nebentischen geraten herrlich unsexy aufgetakelte ältere Ladies in Wallung. Eine springt impulsiv nach unten zu den Nackttänzern, reißt sich die Kleider vom Leib. Die Kamera, die das in kunstvollen Windungen für die Nachwelt dokumentiert, ist von Franz Xaver Lederle; die Musik, vom Romantiksong mit gehetzten Einschüben bis zur rauen E-Gitarre: Gerhard Heinz.
In der Zentrale des Bordellimperiums läuft man nackt herum. Angezogene Leute kann man aber – heißt es – mit etwas magischem Talent durch ein leeres Trinkglas nackt sehen (ich vergesse immer, das mal auszuprobieren). Vanessa freundet sich mit ihrer offensiv sexuellen Kusine an. Hot Pants, geringelte Strick-Overknees… sie ist das „gewöhnliche“, handfeste Gegenstück zu Vanessas edler, entrückter Softerotik. So ein Mädchen ist auch in „Emmanuelle 1“ Sylvia Kristels Freundin. Auch ihren filigranen Pfauenthron haben sie. 9,5/10
Brüste. So einen Sessel hab ich auch gewollt. Und eichelhaft geschwollene Brustwarzen („puffy nipples“) wie Olivia Pascal. Aber es schien, es gab das nur in den Erotikfilmen. Man bekommt auch keine BHs, die einem die matterhornhaft spitzen 60er Jahre Busen machen, die ich als Kind erregend fand. Die meisten mögen das auch nicht. Ich hab mich umhört: Sie wollen die vermeintlich natürliche, kugelige Form, die Mädchen heute mit gepolsterten Pushups simulieren.
Giulia (Andrea Barzini, 1986) Giulia (Serena Grandi) hat überwältigend große Brüste. Sie ist der rassige Typ, Anna Netrebko ähnlich, und kontrastiert ihren Körper als typische 80er Jahre Erotik-Traumfrau mit einem „kühlen“, riskanten Look: knapp kalkuliertes Businesskostüm, High Heels, raffinierte, topmodische Dessous, rot lackierte Raubtierkrallen. Dazu die Sade-artige Saxofonmusik… alles ist wie in der TV-Softpornoreihe „Sommernachtsphantasien“ der 90er Jahre. Heißblütig schläft sie mit dem ihr noch fremden Emilio in einer mit Film- oder Theaterkostümen vollgestopften Kleiderkammer; der Wechsel zwischen aphrodisierend verhüllender Kleidung und spektakulär üppiger Nacktheit erregt den Film. Die Leute sind in der Inzestatmosphäre von Emilios Palazzo und den winterlich dunklen Bildern gefangen wie in einem einzigen, unfrohen Körper. Es hat etwas profifhaft „Erwachsenes“. Das schreckt mich oft am Mainstream der 80er Jahre – Sex als Privileg des neuen, gutsituierten Establishments. Simon Frauendorfer hat darüber interessant in seinem Text zu Shaun Costellos Porno „Hot Dreams“ geschrieben. Giulias Interesse an obszönen Experimenten passt nicht zu Emilios „adligem“ Leben, er will das trennen, währen sie ihn zu Orgien verleiten, sich mit ihm mischen will. Das macht ihn scharf und und stößt ihn ab (häufiges Thema italienischer Filme?). Er steht da wie ein verstocktes Kind am Schwimmbeckenrand, einsam und zornig. In vielen Großaufnahmen sieht man sein gequältes, sensibles, erschrockenes Gesicht. 6/10
Das Recht zu lieben – Das Sexualleben und seine Probleme (Mimi Pollak, 1956) „Einrichtung“ ist ein schillerndes Wort; der penible Wohn- und Umgangsstil der 50er Jahre wirkt wie das Ergebnis einer feinen, verhaltenen Dressurkunst. In einem unendlich braven, ordentlichen Zimmerlein wohnt mit seiner voodooartigen Tristpuppe und alptraumträchtig trauten Wandbildchen ein kleines Mädchen, das sich selbst berührt. Das zeigt der Film naiv und offen. Die hübsche, vom Alleinerziehen und der Berufstätigkeit ganz zusammengefaltete Mama ist besorgt. Sexualexperte Dr. Borg tröstet sie. Das Verhalten ihres Kindes sei für sich genommen nichts Schlimmes – allerdings ein Zeichen von Vernachlässigung. Obwohl es dafür keine Lösung gibt, wirkt sie erleichtert – wahrscheinlich weil man ihr Kind wenigstens nicht für von Natur aus verdorben hält. Ich dachte, Borg würde nun was mit ihr anfangen, aber sie ist nur eins von vielen Fallbeispielen. Das ist ein ernst gemeinter Aufklärungsfilm, dessen Spielfilmrahmen nur eine unfreiwillig amüsante Verpackung für seine sozialmoralische Botschaft ist.
Dr. Borg ist glücklich verheiratet mit einem Drachen. Mit Hornbrille und Buch im Ehebett, erinnert seine Frau interessanterweise an Hannah Arendt. Intellektuell ist sie aber eine Konservative, ein Pfriem, ein großes, herbes Stück Lakritz. Wie Katherine Hepburn in einem Ehefilm mit Spencer Tracy, gefällt sie sich darin, ihrem liberalen Mann Paroli zu bieten, und Borg hat Spaß an ihrem Eigenwillen. Ach, all die individuelle, unmerklich mit leichter Hand gelenkte Wohlgeratenheit um ihn lässt ihn schmunzeln wie einen Chefkoch, einen Gärtner, einen wohlbeleibten, kleinen König, der grüßend durch sein Reich flaniert. Nach jeder Lösung eines intimen Problems seiner Mitmenschen schnalzt er zufrieden; die Synchro übersetzt das lustig überdeutlich mit. Dabei drückt sich der Film um manches. Zwar verteidigt er die (erstaunlich unverblümt gefilmten) Doktorspiele kleiner Jungs und eines nackten Mädchens als natürlich, das Thema Abtreibung löst er aber einfach in Luft auf: Einmal stellt sich eine Schwangerschaftsvermutung als falsch heraus, ein anderes Mal besorgt Borg seinem Assistenten=dem Verlobten seiner Tochter ein Darlehen, damit sie heiraten können; die Schwangerschaft kam nur verfrüht, nicht etwa ungewollt. Sie kommt von einem Wochenende in einem Liebeshotel am See, wo die Zimmer Blumen statt Zahlen an den Türen haben. Die junge Frau ist davon ganz entzückt; an ihrem Verlobten fiel mir besonders seine plumpe Bemerkung über die potenzfördernde Wirkung eines Eierkuchens auf (Sie hat darüber aber nur gekichert). – Bei einer demokratischen Bürgerversammlung um Borg kommen die Positionen verschiedener Glaubensrichtungen zur Sexualität durch ihre Vertreter exemplarisch zum Ausdruck. Man fühlt sich wie bei den Vätern der Verfassung, den Pilgrim Fathers, dem nordischen Thing. Ich habe als Kind die Bücher der norwegischen Unterhaltungsliteratin Berte Bratt gelesen. Von deren Spirit kenne ich hier manches wieder. (Hier der ausdrucksvolle Trailer.) 8,5/10
FWU: Sexualerziehung im 10. Schuljahr: Der weibliche Zyklus (Regie + Jahr unbekannt) Eine triste, kleine Lehrerin, höchstgeschlossene Spitzenbluse, trübes Kostüm, hat eine gute Art, die unruhigen, gelangweilten oder nur so tuenden Teens in ihrer Klasse aufzuklären – wissend, klar und ohne den Schülern peinliche Erotik. 6,5/10
FWU: Typisch Weiber! (Walter Harrich, Claus Strigel, Bertram Verhaag, 1981) In inspiriert und frei montierten Detail- und Großaufnahmen sieht man kleine Mädchen wispernd die Köpfe zusammenstecken, um sich eine Mutprobe für einen Jungen auszudenken. Ihre verwirrend selbstbewusste, natürlich wirkende Grausamkeit hat etwas beißend Sexuelles. Die Mädchen verhalten sich zu ihm so wie Jungen sonst zu Mädchen: Der Film will zeigen, wie er sich dann vorkäme. Viele Jungs, mit denen ich dann sprach, fanden das ziemlich aufregend. 8/10
FWU: Kontakte nach Fünf / Assembly Line (Morton Heilig, 1962) (wahrscheinlich gedacht als Diskussionsgrundlage für ältere Schüler: Wie wirken sich die wirtschaftlichen Veränderungen im Kapitalismus auf das Privatleben der Arbeiter aus?)
Ein Mann am Fließband einer Autofabrik (Detroit?). Gigantische, laute, lebensbedrohlich wirkende Maschinen. Keine sozialen Kontakte außer müden Kollegen. Von ihren Familien und Freunden sind die Arbeiter anscheinend wegen des Jobs weggezogen. Sein Zimmergenosse im Ledigenheim will nach Feierabend nicht mehr ausgehen. So zieht der junge Mann alleine los – und geht Stück für Stück verloren beim nächtlichen Passieren der dunkel funkelnden Schaufenster.
Schaufenster und Ladenräume in alten Filmen sind für mich wie eine große Tasse Kaffee. Ich meine, an ihnen etwas Wichtiges ablesen zu können, über die Seele der Leute, über den Geist, der sie beherrschte. Worauf schauten sie? Was wurde ihnen wie verkauft? Das ist wie Traumsymbole.
Er geht allein ins Kino und alleine essen, in einem Imbiss, wo man sich Kaffee und Brötchen aus massiven Automaten zieht. Da ist ein Mädchen, doch er zögert, und dann ist sie weg. Einen Kollegen, der wie er herumschlendert, fragt er, was er noch vorhat? Ich treffe Leute, ja, ein Girl, ich muss jetzt auch schon los. – Ja, ich bin auch verabredet. – Als sie sich später wieder begegnen, schauen sie weg und wissen, dass sie gelogen haben. Ein Barmädchen lockt Gratisdrinks aus ihm heraus. Im Schaufenster eines Tierladens presst ein kleiner Hund verzweifelt seine Schnauze an das Glas und bettelt um die Chips, die der Arbeiter vor seinen Augen isst. Er könnte selber dieses Hündchen sein.
„Jammere nicht“, sagt der Kollege, als er heimkehrt, „du wusstest, dass kein roter Teppich für dich ausgerollt wird.“ Sechs Filme hat er in der Nacht geguckt. Wie wir. Weil draußen auch nicht unbedingt was wartet, das interessanter ist als Schaufenster und eingesperrte kleine Hunde. 9/10
SGE KURZFILME: Lustige, besondere Mini-Filmobjekte mit einem hochbefremdeten Blick auf Sachverhalte und die Macht von Kleinigkeiten, aber in meiner Erinnerung vermischen sich die Titel. Zeugen des Jahrhunderts (Ulrich Mannes, Rainer Knepperges, 2003 – 2008) zum Beispiel – ich fand ihn gut, aber was war das noch mal? Oder Die Übergabe (Ulrich Mannes, 2001)? Aber Moment, ich glaub, das weiß ich noch. Ein sperriger Klotz soll von Kofferraum zu Kofferraum verladen werden. Das ist allen wichtig, aber niemand fühlt sich in der Lage oder zuständig. Misslaunig zwingt man sich/einander, das eine oder andere zu versuchen. Erstaunlich viele junge Frauen steigen widerwillig aus dem einen Auto, in dem sie sich vor der Arbeit geduckt gehalten hatten, und zeigen kurz und fruchtlos ihren „guten Willen“. Die Verantwortung wird hin und her geschoben. Zu halbherzig und bockig, um zu fruchten. So lässt man es gefrustet scheitern. Jetzt sage keiner, dass er das nicht kennt. 9/10 Die SGE-Making-Of-Trilogie (Ulrich Mannes, 2008 – 2012) Die Mädchen beim Casting zur „SGE-Superpraktikantin“ erinnern mich an solche in Klaus-Lemke-Filmen (oder in die Quereinsteigerinnen). Lässige Wesen, die alles nur nebenbei erledigen, weil sie an ihnen Wichtigeres denken (Sex? Schlafen? Essen?). Selbstgenügsam wie fleischfressende Pflanzen und nur gespielt gewissenhaft nehmen sie die „Challenge“ auf, ein SGE-Heftchen in den Umschlag zu stecken und eine Briefmarke drauf kleben. Sie strengen sich nicht an. Nicht mal um extra hübsch zu wirken, höchstens wie „normale“ Nachbarmädchen, was sie umso geheimnisvoller sexy macht. 8,5/10 – In Erich Lusmann (Rainer Knepperges, 2008) steht Ulrich Mannes nach einem langen, eigensinnig und verzweifelt wegen einer ganz bestimmten Sache kämpfenden geschäftlichen Telefonat verwirrt und allein am Atomium und anderen magischen Ecken Brüssels, umgeben von rührend futuristischem 50er/60er Jahre Baustoff, der bleich und bröckelig verwittert wie gestrandete Korallen. War es in diesem Film (während des Gesprächs in der Telefonzelle?), dass im Hintergrund ein dicker Mann in einem Einstiegsloch verschwand? 8,5/10 – Das nasse Grab der Grenzbanditen (Christian Mrasek, Rainer Knepperges, 1997) Bei einem Gelage von Flusspiraten am Ufer der Isar greift die Hand der Räuberin selbstverständlich und fest in den Schritt des Räubers Bernhard Marsch – eine vorbildliche Geste, die man selten sieht. Zur Durchquerung bilden die Gangster, wie man das aus Filmen kennt, eine kümmerliche „Seilschaft“… die Leute wissen noch, wie sie als Kinder gespielt haben. Fast ohne Mittel tun als ob. Nie hätten wir damit aufhören sollen. 9/10
Anonyme sexuelle Kurzfilme: Underground (Jahr unbekannt) Penisse sehen manchmal wirklich prächtig aus. Mein Herz geht auf. 6/10 Hedonistic Communication (Jahr unbekannt) Das will auf eine studierte Kunst hinaus, die nicht die meine ist, der tantrische Blick auf Körper. 3/10 Doch auch den kontrastierend dreckigen, grotesken 20er-Jahre-Trickfilm Eveready Harton in Buried Treasure (1928) mochte ich nicht so. Spritzende Brüste und die Abenteuer eines Riesenglieds, wie es gedehnt wird, abfällt, hopst, sich wieder aufpflanzt. Hm. 3/10
Eis am Stiel (Boaz Davidson, 1978) Schön, dass sich der dicke, unvorteilhaft frisierte Zachi Noy nicht schämt. Er ist der Unansehnlichste der drei und trotzdem der, der mutig seinen Penis zeigt. In einer anderen, hübsch gespielten Szene haben alle ihre Unterhosen drüber, aber immerhin löblich offensiv, dass sie zum ausgerufenen Schwanzvergleich mit „Zelten“ antreten. Gut gefiel es mir auch in der luftig gelegenen, belgisch rot tapezierten Wohnung der schrägen, nymphomanen Geliebten eines prächtigen Matrosen. Sie ist, wie Mrs. Robinson aus der „Reifeprüfung“, zwar suspekt und unpassend für die Jungen, aber irgendwie auch attraktiv. Vor ihrer Freitreppe an der Außenwand parkt der Eiswagen, für den einer der Jungen, Benny, arbeitet; es ist ein überzeugend heißer Sommer in den Straßen Tel Avivs. Obwohl es in den Fünfzigerjahren spielt, herrscht unverkennbar das Flair der Siebziger. Der Film identifiziert sich mit Benny, dem traurig witzigen Liebenden, unschuldig Leidenden der drei Freunde, und ist dabei etwas einseitig von sich selbst gerührt. Besonders weil er an anderer Stelle die Begierden eines auf hässlich gestylten Mädchens mitleidlos verspottet. 7/10
Grün ist die Heide (Harald Reinl, 1972) Ein großes Bild: Tiefschwarzer Heidehimmel. Roy Black davor am Lagerfeuer. Einsam streichelt er den Hals der Ente. Dramatisch leuchten die dichten, dunkelgrünen Wacholderbüsche. Weil sie aussehen wie geschrumpfte Bäume, wirken Menschen gegen sie unnormal groß. Magisch realistisch auch der Moment, als den drei Freunden aus dem Nachthimmel plötzlich Jutta Speidel auf einem weißen Ross entgegensprengt. Wie St. Martin auf einem ruralen Devotionsbildchen rügt sie ihren Leichtsinn, warnt vor der Brandgefahr, sprengt wieder davon. Peter Millowitsch ist sofort in sie verliebt. In Roy Black verlieben sich das mokante It-Girl Monika Lundi (Uschi Glas in blond) und der kecke, kleine Junge links. Dessen Existenz und Liebe erfüllt sich darin, am Ende als ponyreitender Bote Roy und Monika zusammenzubringen. In seltsamer Erinnerung bleibt auch das wangenflatternde Schnarchen Peter Millowitschs. 7,5/10
Das Strandhaus (Joseph W. Sarno, 1968) Eine gemischte Clique im hypnotisch hellen, maritimen Licht und komplizierten, erotischen Konstellationen. Nur eins der Pärchen in dem Haus bleibt stoisch. Im Vordergrund der Räume und Geschichten sitzen sie einander gegenüber wie zwei Demiurgen, die die Welt durch ihr Kartenspiel fragwürdig zusammenhalten. Das Spiel heißt „Gin Rummy“ (das weiß ich dank eines Kongressfreundes verblüffendem Spezialwissen in männlichen Orchideenfächern); man spielt es gern, um zu ermitteln, wer die nächste Runde schmeißt. Mir sind aus Müdigkeit viele Details entgangen. Das existenzialistische, puppenhaft vereiste Schauspiel mit den unerklärten, exaltierten Ausbrüchen erinnerten mich an Rolf Thieles künstlerisch allerdings viel raffinierteren VENUSBERG (auf dem 11. Hofbauerkongress). Sarno hingegen hat etwas Naives. Das gefiel mir, ohne dass ich es begriff. 7/10 (Hier der Trailer.)
Atemlos vor Liebe – Trash Teens im Blitzlicht (Dietrich Krausser, 1970) Zu den interessantesten Filmen auf den Hofbauerkongressen gehören solche, die es – notgedrungen, hilflos oder lässig – zulassen, dass sie nicht werden was sie werden sollten. Wie manche Pflanzen beginnen sie, auf einmal wild zu wachsen und vergessen ihr Züchtungsziel. Man kommt mit ihnen aus Armut u. a. in Gegenden, wo sonst nie Filme gedreht werden. (Jemand erzählte mir, dass er deswegen die italienischen Polizeifilme der 70er Jahre so mag.) Lange liegt man mit einem nackten Paar in der Sonne auf dem Flachdach eines Hochhauses und schaut auf eine jener verwechselbaren deutschen Flusslandschaften.
Am Anfang ist der Film böse, unnötig hart. Gangster (einer trägt eine der schönen skorpionschwarzen 70erjahre-Knautschlackjacken) überfällt ein Liebespaar. Sie schlagen den Rücken des Jungen drastisch blutig und fotografieren das. Schnell beleidigt, wie ich bei Müdigkeit bin, wollte ich mich schon von diesem auf seine Erbarmungslosigkeit scheinbar stolzen Film abwenden (wie bei jedem Versuch mit A CLOCKWORK ORANGE). Aber da hört das auch schon auf. Wir sehen die Polizei ruhig-routiniert ermitteln. Die Gang – Schüler, Studenten, Handwerker – trifft sich mit einem Fotografen, der skandalöse Sexfotos vermarktet.
Dann unterhalten sich zwei Freundinnen aus der Clique unter einem alten Baum auf einem Schulhof über ihre gegensätzlichen Vorstellungen vom Sex. Der Film wird still und zart. Als wüsste er jetzt nicht mehr, was er will.
Von da an kümmert er sich nur noch um die eine von ihnen – ein eigenwilliges, nüchternes, sexuell sehr vorsichtiges Girl mit einer bezaubernd armseligen Schrumpf-Pop-Wohnung wie aus einem alten Einrichtungskatalog. Blickfang: zwei große, blaue Porzellankatzen. Sie hat sich in einen süßen Boy verliebt und entsagt der schlechten Gesellschaft ihrer Jugend. Es dreht sich nur noch um die Liebe – fast auf der Stelle, in einem schlichten Schuhkarton.
Hans Hass jr. war der Sohn des aus dem Fernsehen sehr bekannten Tiefseetauchers. Als gut gebauter, knuffig-süßer, vertrauensheischend blickender Freund des Mädchens hat er ein altes, mit einem Herz beklebtes Schrottauto („Ich war nur ein verlassener Typ mit rosa Nelke, altem Jeep“) und eine aufgeräumte Bude mit dem neusten Schrei von Staubsauger. In einer Konfrontation mit ihrer Gang zeigt er jedoch, dass er auch anders kann und verteidigt sie versiert mit Fäusten. Ein falscher, nur durch die Dekoration hervorgerufener Split Screen zeigt die Polizei vor der Tür und das Zimmer mit den Gangstern.
Blickfang in seiner Wohnung ist das Poster eines nackten Mädchens. Darüber lächelt seine Freundin; er ist ja doch ein Mann, auch wenn er sich zurücknimmt, bis sie von sich aus so weit ist. Das macht er (nicht ironisch) auch ganz richtig, wenn man bedenkt, wie die beiden nun mal sind. „Ein Wechselspiel aus Verständnis und Verzicht“, schreibt Lukas, sei das, „das, gleich mehrmals (…) in dem Wort ‚Genießerin‘ kulminiert: ‚Nun reicht es aber, du Genießerin, es soll doch noch etwas für morgen übrig bleiben.‘“. Es ist haarsträubend ordentlich, ein trauter Tanz, aber man muss sie lassen und sich denken: „Gut, dann machen sie das so. Wir machen es aber anders.“
Mitten im Film eine unerklärte Enklave: Ein dunkelhäutiger Mann wartet wie in einem verträumten Kulturessay (irgendwie auch wie bei Peter de Rome) lange vor einem öffentlichen Gebäude bei der Skulptur einer nackten Frau. Da kommt seine Freundin aus dem Gebäude, Fleisch und Blut. Sie gehen heim und schlafen mit einander, nackt und schön, man sieht sogar seinen Schwanz, da schämt sich dieser seltsame kleine Film gar nicht. Das ist das Paar, das wir hätten sein wollen. 9,5/10
Meistertrunk. In der letzten Nacht brachte ein Kongressfreund verschiedene Sorten französischen Absinth mit. Man macht ihn mit Kräutern, die ich auch im Garten hab: Wermut, Ysop und Anis. Mein Liebster unter ihnen war der auf Cognacbasis: erdig, stark, facettenreich, ein tiefer Traum, ein Film zum Trinken. Dann gingen wir zur Kneipe „Meistertrunk“, die schon um 6 Uhr morgens aufmacht. Es ist da schön karg und erdig, wie in einem Lehmbau aus dem Märchenbuch, in dem ein Igel Maulwürfen Bier serviert. Es war ein überraschend gutes, eiskaltes, nicht teures Flaschenbier von „Lederer“. Wir tanzten zu Musikboxhits. Ein fremder Mann stand von seinem Tisch auf und tanzte mit, schlicht, ohne Verlegenheit. Kehrausstimmung. „Austrüben“ heißt das im Kongressjargon.
Sämtliche zum Kongress erschienene Artikel sind bei den „Eskalierenden Träumen“ zusammengefasst.
3 Kommentare zu "Filmtagebuch einer 13-Jährigen #12: 13. Hofbauerkongress"
Ihr Lob freut mich ganz außerordentlich, Herr Bartel! :-)
Frei heraus Frau Szymanski: Das sind ja wohl die wunderschönsten Rundungen von Buchstabenbergen die meine Augen seit langem liebkosen durften.
Kehraus-Tanzen im Meistertrunk. Wie zauberhaft ist denn das? Jugenddiskotheken-Tristesse forever!
Trackbacks für diesen Artikel