A Touch of Sin
Von Michael Schleeh // 19. Januar 2014 // Tagged: Arthouse, Asien, China, featured, Gewalt, Kapitalismus, Massagesalon, Mopedfahrer, Rachedrama, Wanderarbeiter, Yangtze // Keine Kommentare
Der sympathische Minenarbeiter Dao (Jiang Wu) schultert irgendwann das Gewehr, als es ihm schließlich reicht. Eingepackt hat er die Waffe in eine Decke mit dem Motiv eines Löwen, der dann auch einmal überraschend brüllt (eine der schönen irrealen Spitzen, in die es die Filme Jias immer wieder hineintreibt). Und so geht er durch eine Kleinstadt in der Provinz Shanxi um dem korrupten Minenbesitzer, der nichts Besseres zu tun hat, als mit seinem Wohlstand zu protzen, seine Meinung zu geigen. Aus dem Reden, dem vergeblichen, und dem Arbeitskampf um Besserung der Verhältnisse für die Kohlenkumpel war freilich nichts geworden und Dao hat beschlossen, dass er das nicht mehr mit sich machen lässt.
Vorher aber schon war er bei einem umgekippten Tomatenlaster einem Mopedfahrer begegnet, einem Wanderarbeiter, der von drei jugendlichen Kriminellen überfallen worden war. Dieser aber hatte sich ebenfalls gewehrt und die drei Diebe kurzerhand erschossen. Der Film wird später diesem Mann auf seinem Schicksalsweg folgen, wie er zu seiner eigenen Familie zurückkehrt nach Jahren, vermutlich wieder nach Fengjie nördlich des Drei-Schluchten-Staudamms am Yangtze. Ein Ort, der die zentrale Rolle in Jias Meisterwerk STILL LIFE spielte, eine in den Fluten des Flusses versinkende Stadt, wo sich ebenfalls die Geschichten von Menschen kreuzten, die etwas verloren hatten und die sich nun auf einer Suche befinden.
Jia Zhangke ist der Chronist eines modernen Chinas, in dem sich der Kapitalismus hemmungslos ausbreitet und die Menschen wie auszubeutendes Vieh aussaugt und verheizt. Es sind aber zugleich auch Filme, die einen Alltag portraitieren, der seine beiläufige Gewöhnlichkeit noch nicht verloren hat. Sie schaffen es immer wieder, in den Menschen selbst oder gerade in den unbedeutenden Kleinigkeiten am Wegesrand eine besondere, erzählenswerte Schönheit zu entdecken. Es sind keineswegs die ohnmächtigen Filme eines kapitulierenden und melancholischen Künstlergemüts, sondern vielmehr kraftvolle Filme eines Aufbegehrenden und somit selbst in der Tristesse oft sanfte Zustandsbeschreibungen, die ihre Spannung aus der Darstellung des Schrecklichen und des Schönen zugleich gewinnen. So erlangen die Filme Jias ihre Reibungsflächen insbesondere durch ihre Bildspannung, die sich aus der Kontroverse zwischen der Schönheit und Würde des Filmbildes im Verhältnis zum abgebildeten Motiv ergeben. Ohne seinen Kameramann Yu Lik-wai wäre Jia Zhangke nicht der, der er heute ist. Ein Mann, der eine gottverlassene, staubige Landstrasse im Nirgendwo auf eine Weise abbilden kann, dass man sofort darauf entlang gehen möchte.
Jia also bleibt seiner filmischen Methode treu, es haben die Geschichten gewechselt – und sich radikalisiert. Die Gewaltausbrüche, mit denen man es hier zu tun bekommt, sind, ja, schockierend. Sie kommen mit einer Urplötzlichkeit, die an an die Filme Takeshi Kitanos erinnern (mitproduziert hat übrigens auch das Office Kitano), und mit einer Intensität, wie man sie von Jia bislang so noch nicht kannte. Besonders markant etwa in der Episode, die von einer Rezeptionistin in einem Sauna- und Massagesalon erzählt, wieder höchst eindrucksvoll gespielt von Jias Ehefrau und Stammschauspielerin Tao Zhao. Diese hat sich vor Jahren unglücklich in den Chef eines industriellen Betriebs, einer Näherei (?), verliebt und die ewigen Kurzbesuche genügen ihr nicht mehr. Sie fordert eine Scheidung und eine Entscheidung von ihm, vor allem auch deswegen, da sie einen immer stärker werdenden Kinderwunsch verspürt. Er aber bittet sich erneut Bedenkzeit aus und frustriert gehen sie auseinander. Eines nachts dann im Etablissement wird sie von zwei Gästen zum Beischlaf gebeten. Als sie ihnen diesen Wunsch mit der Begründung, sie sei keine Masseuse, abschlägt, werden die Männer zudringlich – und dann gewalttätig. In einer höchst eindrücklichen Szene wird sie von einem der beiden mit einem dicken Bündel Geldscheine verprügelt, während dieser erbost auf sie einschreit, er könne sich alles kaufen mit seinem Geld. Da weiß sie sich nicht anders zu wehren, als das Messer zu benutzen, das sie noch in ihrer Tasche findet. Und die Anspielung auf King Hus legendären Film A TOUCH OF ZEN kommt hier nun zum Ausdruck, wie diese Frau wie in einem chinesischen Historienfilm den Angreifer zur Strecke bringt. Erneut sehr blutrünstig und mit dieser irrealen Spitze, der man im Film nun schon mehrfach begegnet ist (bekanntestes Motiv im Werk Jias sicherlich die unvermittelt aus den Ruinen der Stadt startende Rakete in STILL LIFE). Aber freilich lässt sich der Filmtitel auch in anderer Richtung metaphorisch weiter ausdeuten. Anschließend irrt sie blutverschmiert durch die neonbeleuchteten Gänge des Salons und sucht das Weite.
In der letzten Geschichte des vielleicht etwas lang geratenen Films geht es um einen jungen Mann, der seinen (Arbeits-) Platz im Leben nicht finden kann und darüber zunehmend verzweifelt. Eine weitere Episode, die auf wahren Begebenheiten beruhen soll, und die Jia als Inspiration für diesen Film diente. Ein Film, der wie auf einer Landkarte verschiedene Regionen Chinas wie in einem großen Pastiche zusammenknüpft um ein Bild des Landes und seiner Menschen zu vermitteln. Es ist aber, das sollte man nicht vergessen, insbesondere da sich der Mann nur allzuleicht (unfreiwillig) vereinnahmen lässt, nur eines von sehr vielen. A TOUCH OF SIN ist ein gewaltiger Film geworden, der Jias eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgt.
A Touch of Sin / Tian zhu ding, China / Japan 2013; Regie: Jia Zhangke.
Der Film ist am 16. 1. 2014 in den deutschen Kinos angelaufen und ist, ganz klar unverzichtbar, jetzt schon einer der ersten Höhepunkte im noch jungen Kinojahr 2014.
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