The Lunchbox

Von  //  11. Dezember 2013  //  Tagged: ,  //  Keine Kommentare

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Magische Mahlzeiten – Eine unwahrscheinliche Fehllieferung ist der Angelpunkt im Kino-Debüt von Ritesh Batra

Berlin taut auf nach kalten Tagen. Vor meinem Fenster tropft das Hoflicht. Schon wieder fünf vor acht, ich habe zu lange am Rechner gesessen. Wenigstens Kino, denke ich. Ich nenne mich einen Pantoffelprimaten, weil ich am liebsten träge wäre. Zehn nach acht stehe ich an der Kinokasse, der Film, den ich mir vorgenommen habe, läuft nicht mehr. Ich habe falsch geguckt, und ohne Brille nutzt mir das Programmheft, das mir ein freundlicher Kassenbart anbietet, gar nichts.
„Ich habe meine Brille nicht“, erkläre ich.
Bart mustert schwer interessiert das lebende Fossil. Was sich die Evolution wohl dabei gedacht hat, den alten Blindschleicher auf der Teststrecke zu lassen. Der gehört doch längst in ein Eigenheim im Hinterland. Bart sagt an, was gespielt wird. Ich vernehme das leise Lachen am Ohr eines anderen (Wolf Wondratschek). Hinter mir staut sich der Verkehr. Ich unterbreche Bart, ich will nicht, dass er glaubt, Kino sei für mich bloß ein Hörvergnügen. Und vielleicht auch eine Gelegenheit, als Randerscheinung unter Leuten zu sein.
„In die Ferne sehe ich gut.“
„Dann guck „Lunchbox“. Ist ne ferne Sache, du kriegst Ermäßigung.“
Offensichtlich bin ich schon zu alt, um noch gesiezt zu werden. Ich folge der barrierefreien Empfehlung und sitze bald allein in einem Saal für zweihundert Leute. Kein Mensch will wissen, was in „Lunchbox“ los ist. Ich sage es Euch, zuerst einmal ein unglaublicher Krach. Kakophonisch. Das sind bloß indische Straßengeräusche, sie klingen aber, als würden Tausende die Blechdeckel antiker Mülleimer auf das Trottoir knallen, verstärkt von einem Geschwader Presslufthämmer. „The Lunchbox“ wirkt in den ersten Einstellungen wie ein Dokumentarfilm über eine Sekte, die sich auf den Transport von Mittagessen spezialisiert hat. Sekte deshalb, weil die Abläufe (aus der europäischen Perspektive) exotisch ritualisiert und vollkommen sinnlos erscheinen. Eine Hausfrau übergibt einem Fahrradkurier eine Lunchbox, die bis zum Ziel, einem Großraumbürogatten, in vielen vagabundesk verschlissenen Verkehrsmitteln transportiert wird und dabei durch allerhand Hände geht. Was soll das?

Das ist eine Spezialsache in Mumbai. Die Spezialisten nennt man Dabbawalas. Sie stellen Mahlzeiten in mehrstöckigen Dabbas (Essgeschirre) zu. Ihr unfehlbares, auf einem Farb- Buchstaben- und Zifferncode gründendes System wurde von Wissenschaftlern untersucht und bestaunt. In diesem Witz geht es um eine irre Ordnung im Mumbaimaniac-Chaos. „Untersuchungen haben eine Fehlerquote von nur einer Fehllieferung unter 16.000.000 Lieferungen ergeben.“ Zitiert nach Wikipedia.

Eine unwahrscheinliche Fehllieferung dreht die Angel im Kino-Debüt von Ritesh Batra. „Lunchbox“ ist eine ausgebaute Geschichte, ursprünglich wollte der Regisseur das System der Dabbawala lediglich dokumentieren. Nun erhält Saajan (Irrfan Khan) eine Mahlzeit, die nicht für ihn bestimmt war. Eine in ihrer Ehe vereinsamende Frau wollte mit der Portion den Liebeshunger ihres Gatten wecken. Die aphrodisierende Wirkung des Gerichts löst beim falschen Empfänger Empfindungen aus, die er in seiner Vergangenheit vergraben wähnte. Irrfan Khan spielt einen melancholischen, wenn nicht depressiven, in jedem Fall sorgfältigen Buchhalter (in der Schadensabteilung einer Versicherung) am Ende seiner absolut fehlerfrei absolvierten Berufstätigkeit. Das Lunchbox-System der Dabbawalas grüßt. Saajan Fernandes soll seinen Nachfolger einweisen. Shaikh (Nawazuddin Siddiqui) stellt sich als liebenswürdiger Hochstapler mit schwerer Kindheit heraus. Er verstört den stillen Witwer mit vielen Beispielen für mangelnde Solidität. Wie Saajan auf einer Schleimspur allmählich weich wird, das ist eine Geschichte über die Vergänglichkeit von Misanthropie.

Saajan empfängt täglich mit der „Lunchbox“ Nachrichten seiner Köchin Ila (Nimrat Kaur). Er reagiert mit vertraulichen Mitteilungen, er taut auf im Interesse einer Isolierten. Ilas Mann braucht seine Frau nur zur Haushaltsführung. Seinen Kopf legt er an die Brust einer Geliebten. Den für Saajan bestimmten, da von ihm bestellten Restaurantfraß inkorporiert dieser Ehemann so gleichgültig wie er vorher Ilas magische Mahlzeiten zur Verdauung geschickt hat.

Ila drängt auf eine direkte Begegnung mit ihrem greisen Köstling. Man verabredet sich, Saajan schwebt sich im Augenblick der Begegnung besonders glatt rasiert vor. Eine Stelle am Kinn lässt ihn noch einmal ins Bad zurückkehren. Dann sieht man ihn in Pendlerzügen stehen oder sitzen. Es heißt auch bei Gelegenheit, er habe sein Leben im Stehen zugebracht. Und mehr als ein Stehgrab haut sowieso nicht hin in der Konsequenz cholerischen Platzmangels. Doch jetzt bietet man ihm einen Sitzplatz an, indigniert quittiert Saajan das Angebot mit Annahme. Der Film schiebt einiges zwischen das Rätsel und seiner Auflösung. Eine Weile weiß man nicht, kam es zur Begegnung oder fuhren alle Züge falsch. Herr im Himmel, was denn nun? Ilas Vater stirbt an Zigaretten, ihre Mutter verscherbelt den Fernseher. Ila hört von Bhutan, da wird dem Vernehmen nach Lebensglück für alle groß geschrieben. Saajans Lunchbox bleibt leer. Er lässt sie mit einem Zettel zurückgehen. Ja, Saajan war im Café der Verabredung. Er sah Ila zu, wie sie wartete. Er sah eine blühende Person und roch an sich sein Alter. „Als ich heute morgen ins Bad kam, hing darin der Geruch meines Großvaters. Dann wurde mir klar, dass ich so rieche wie er roch, als ich ein Kind war.“

Nicht richtig

Es wäre nicht richtig, Ila mit Versprechungen zu laden, die der angehende Rentner Saajan unmöglich halten kann. Saajan resigniert in einer Weichzeichnung der kollabierenden Metropole Mumbai. Sein Grab hat er sich schon gekauft.

Indien 2013, Regie: Ritesh Batra


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