Innere Blutungen
Von Sebastian Selig // 2. Dezember 2013 // Tagged: Experiment, featured, Geschichte, Leben, Österreichisches Kino, Sex-Report, Super 8 // Keine Kommentare
Der Tourist, wir, schweben im Drachenflug in luftigster Höhe über das ozeangleich, tief unter uns liegende Salzkammergut. Von bunten Super 8 Lichtpunkten umflirrt treiben wir auf einem warmen Luftstrom dahin, der uns in all seiner Erhabenheit den gewaltigen Sturzflug, den wir hier gerade erleben, beinahe gleich wieder vergessen lässt. Ein Sturzflug, der im Moment nahtlos übergeht in einen wagemutigen Kopfsprung. Mitten hinein in den Bilderstrom. In die warmen Eingeweide dieses heillos betriebsamen Ortes.
Dabei haben wir stets die wunderbar seltsamsten Nachrichten direkt aus der Mitte Österreichs im Ohr. Völlig ungehemmt. Eine berührender, unfassbarer als die andere. Nachrichten, die stets bemüht sind alles recht streng zu verorten und dabei dann durchaus kaltschnäuzig gleich auch noch bewerten. Texte direkt aus der Regionalzeitung. Eingesprochen von warmen, einen stets in scheinbarer Sicherheit wiegenden Märchenerzähler-Stimmen.
1965 – 1975. Im Volks-Beat. Organisierter Klatsch. Journalismus aus der Tiefe der Eingeweide. In Folge dann: INNERE BLUTUNGEN.
Im Kino spielen sie derweil DIE SEXKLINIK. ROCKER STERBEN EINSAM. DIE BEICHTE EINER LIEBESTOLLEN. In der Zeitung beschwert sich sehr nachdrücklich eine gewissenhafte Krankenschwester über den KRANKENSCHWESTERN-REPORT. Nacht für Nacht sind die Männer vom Spar-Frischdienst für uns unterwegs. 49 km von Salzburg lagern mehr als achtzig Gasdruckflaschen und kistenweise Frischluftspray um die Wiederbelebung des Reich der Toten auch in jedem Fall zu gewährleisten.
Eine Wiederbelebung, die hier tatsächlich im vollen Umfang gelingt. Einem die vollen 80 Minuten direkt ins Herz fährt. Anatol Bogendorfer und Florian Sedmak haben dafür den Daumen fest auf den Spraydosenknopf gedrückt gehalten und all die rauschend frische Luft durch 250 Stunden Filmmaterial und mehr als 2.000 Fotos geblasen und so am Ende nur das aller Kraftvollste herausgefiltert. Amateurbilder, Urlaubsbilder, Familienfilme, die einen direkt reinstoßen in dieses 1965-1975. Filme über das Leben im Fluss. Super 8-fach vor sich hinbrodelnd.
Nicht nur im Salzkammergut. Für längere Ausflüge in alten Mercedes-Limousinen, im stickigen Reisebus mit grobmaschig roten Vorhängen vor den Fenstern, in der Reisegruppe, mit der Familie zieht es uns auch noch weiter runter in den Süden. Zum Meer. Eben war noch von verschlagenen Gastarbeiterinnen die Rede und schon stranden wir nun selbst im ehemaligen Jugoslawien. Scheu im Vorbeifahren hält die Kamera auf die vorbeifliegende Wild West-Landschaft drauf. Am Rastplatz dreht sich ein gehäuteter Hammel am Stück über der Grillkohle. So wie wir uns da über die abenteuerliche Mühlrad-Konstruktion freuen, die hier alles in Bewegung hält, fällt unser Blick sogleich auch bewundernd auf die Stranddusche, deren dünner Strahl sich fast im Küstenwind verliert.
Und irgendwann ist dann tatsächlich Weihnachten und auch wieder nicht. Zwischen prasselnden Wunderkerzen, im Glitter, mündet das Blockflöten-Konzert unweigerlich allzu hitzig im Schnee. Und es ist wie es immer ist, im richtigen Leben, im Kino: eben sitzen wir noch melancholisch mit halb-geleertem Glas im Wirtshaus, 10 Minuten später ragt uns dann auch schon ein Küchenmesser aus dem Brustkorb.
INNERE BLUTUNGEN. Großes Kino.
Österreich 2013, Regie: Anatol Bogendorfer und Florian Sedmak