Sergej in der Urne
Von Frau Suk // 10. Februar 2012 // Tagged: Dokumentation, featured // Keine Kommentare
Sergej Stephanowitsch Tschachotin wohnt bei seinem Sohn Eugen in Paris. Das scheint erst einmal nichts besonderes zu sein, allerdings ist Sergej schon seit 30 Jahren tot. In seiner Urne harrt er auf Eugens Wohnzimmerschrank seiner Beisetzung auf Korsika, wo er bereits einen Grabstein hat, aber noch lange kein Grab. Boris Hars-Tschachotin macht sich mit der Kamera auf die unzähligen Spuren seines umtriebigen Urgroßvaters Sergej und wühlt dabei nicht nur Staub, sondern auch eine ganze Menge verschütteter Gefühle bei seiner Verwandtschaft auf. Wir dürfen Boris bei seinen archäologischen Streifzügen durch seine Familiengeschichte begleiten und begegnen dabei einem ganzen Haufen außergewöhnlicher Gestalten.
Boris beginnt die Recherche bei den vier noch lebenden Söhnen Sergejs, zu denen auch sein Großvater Wenja gehört. Anders als in Boris’ Kindheit ist der griesgrämige Aussteiger Wenja allerdings ganz und gar nicht freigiebig mit Anekdoten über seinen Vater. Die Begegnungen mit Wenja gestalten sich mühsam und sind geprägt von der Ablehnung, die der 90-Jährige seinem verstorbenen Vater entgegen bringt. Anders Wenjas (Halb-)Brüder Eugen, Andrej und Petja, die mit viel Freimütigkeit von ihrem einst berühmten und inzwischen annähernd vergessenen Vater erzählen. Alle vier haben auf je eigene Art einen Teil des Erbes von Sergej angetreten, indem sie Fragmente seines Lebensentwurfs für sich neu inszenieren, ihm opponieren oder ihn aufheben, wie Eugen.
Das Leben Sergej Stephanowitsch Tschachotins, das die Dokumentation Revue passieren lässt, kommt einem vor wie die russische Variante der Forest-Gump-Geschichte. Es gibt kaum ein wichtiges Ereignis im Verlauf des 20. Jahrhunderts, bei dem Tschachotin nicht in irgendeiner Weise die Finger im Spiel (oder eingequetscht) gehabt hätte. Als Mikrobiologe erfindet er das Strahlenskalpell (und damit im Prinzip den ersten Laser), als Revolutionär kämpft er gegen die Zaristen, als Exilant wird er beim großen Erdbeben in Messina verschüttet und überlebt wie durch ein Wunder mit Frau und Kind, als politischer Aktivist und Visionär analysiert er die Propaganda Hitlers und wird Chefideologe der Eisernen Front, als Atomkraftgegner sagt er seinen Wissenschaftlerkollegen den Kampf an, als Toter reist er mehrfach zwischen Korsika und Paris hin und her, ohne Land zu gewinnen; er ist mit Pawlow und Einstein befreundet, schreibt bahnbrechende wissenschaftliche Werke, spricht weit über zehn Sprachen und ist Meister darin, seine Zelte in unterschiedlichsten Ländern aufzubauen und wieder abzubrechen. Das Wiederholte Abbrechen der Zelte ist allerdings auch der Grund dafür, dass seine Familien – er hatte derer mehrere – Sergej mit zwiegespaltenen Gefühlen gedenken. Fünf Frauen heiratet und verlässt der rastlose Sucher – mit dem jeweils jüngsten seiner acht Söhne im Gepäck. Sergej Stephanowitsch Tschachotin lebt ein Leben für zehn.
Ausgehend von den Erzählungen der vier elementar verschiedenen Söhnen, von denen keiner eine nur ansatzweise konventionelle Lebensgeschichte aufweist, und Recherchen im Nachlass zeichnet Boris Hars-Tschachotin ein Portrait seines Urgroßvaters; subjektiv, verschwommen, teilweise mehrfach übermalt und dennoch beeindruckend. Die Aussagen der Brüder, die Dokumente, Briefwechsel und historischen Daten ergänzen und widersprechen sich, und am Ende ist die Sache alles, aber nicht rund. Boris Hars-Tschachotin macht keinen Hehl daraus, dass es sich bei dem, was er in seinem Film einfängt, um Geschichten handelt, nicht um Geschichte. Die Wahrheit spielt in der Collage von Erinnerungen eine untergeordnete Rolle, was durch dezente aber anrührende Animationen untermalt wird. Eigentlich ist das ganze bloß eine dieser Ahnenforscher-Dokus, uneigentlich ist es die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in nuce.
Kinostart: 23. Februar 2012, Webseite des Verleihs filmkinotext
Deuschland 2010; Regie: Boris Hars-Tschachotin