Sibel
Von Jamal Tuschick // 8. Januar 2019 // // Keine Kommentare
Toxischer Aberglauben. Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti erzählen die Geschichte von der stummen Bürgermeistertochter Sibel wie ein Grimm’sches Märchen auf Türkisch.
In einer malerisch alpin-maritimen Region der türkischen Schwarzmeerküste verständigen sich Eingesessene in der „Vogelsprache“. Die Pfeifsprache wurde 2017 auf die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt. Das fünfhundert Jahre alte Kommunikationsmittel diente ursprünglich zur Überwindung großer Distanzen in einer von Schluchten gefrästen Landschaft – sowie als Geheimsprache in Oppositionen gegen die Obrigkeit und andere Usurpatoren. Eingesetzt wurde es auch zur Werbung. Sämtliche Funktionen erfüllen die gezwitscherten Botschaften in der Geschichte von der stummen Bürgermeisterstochter Sibel, in der sich Aschenputtel- und Rotkäppchen-Motive bewähren; während Handtelefone in Funklöchern versagen und Autos in Schlaglöchern liegenbleiben.
Auch „Rapunzel“ hat eine osmanische Wurzel, an die heute noch der Kız Kulesi – Mädchenturm – vor Istanbul auf einer Bosporusinsel erinnert. Sibel lebt in der Weilergemeinschaft von Kuşköy – dem Vogeldorf, wo Kuş Dili gepfiffen wird. Der höhnischen Verachtung ihrer Umgebung entgeht die Stumme, die nur pfeifen kann, täglich (mit einem Einzelladerunikat bewaffnet) in den Wald. Sie versorgt da eine Eremitin, die in der Maske der närrischen Greisin als Gralshüterin eines animistischen Islam sufistisch auftritt. Außerdem versucht Sibel einen Wolf in die Falle zu locken, dessen individuelle Gegenwärtigkeit von mythischen Ansagen überkupfert wird.
Sie findet Knochen eines toten Wolfes. In stillem Fleiß und wochenlanger Recherche macht sie sich daran, das vollständige Skelett aus dem Boden zu ziehen. Nebenbei versorgt Sibel ihren verwitweten Vater und eine bösartige Schwester, die schrecklich konventionell erscheint und sich für Sibel schämt.
Das ist alles sehr märchenhaft. Es gibt einen Nebelberg, viel Regen und Gewitter, einen als Forellenlaichplatz sagenhaften Zufluss des Schwarzen Meeres, den Çağlayan Deresi, und ausgedehnte Teeplantagen, die von der weiblichen Dorfgemeinschaft traditionell bewirtschaftet werden. Auch bei der Teeernte zeigt sich Sibel so rege wie ausgeschlossen.
Ihre Andersartigkeit ist ein Stigma, dass sie auch ihrer Weiblichkeit entfremdet. Feminisierende Selbstversuche enden desaströs.
Damla Sönmez spielt die gute Tochter, die zur guten Fee avanciert, als sie im Wald einen verletzten Deserteur findet und vor dem Tod in ihrer Jagdhütte bewahrt. Die narrativen Implikationen dieser Volte sind natürlich leicht überschaubar. Sie stören beinah die Geschichte einer erbarmungslos von den Festplätzen und Kommunionen des Dorfes weggedrückten Außenseiterin. Sibel scheitert an Normen, die sie übererfüllt. Sie ist tüchtiger, findiger, intelligenter, mutiger und sogar hübscher als die Vergleichskohorte. Sie dient ihrem Vater und dem Gemeinwohl, ohne ausreichend Anerkennung zu finden. Alles, was sie unternimmt, um sich in der Gemeinschaftsordnung Geltung zu verschaffen, wird von einem toxischen Aberglauben gekontert. In den Erzählungen des Dorfes wird der Deserteur zum Terroristen. Sibel überschreitet die Brücke von der Devianz zur Delinquenz. Ihre Kriminalisierung ist ein Projekt der „Gesunden“ und macht den Ausschluss der Stummen perfekt.
Die präzise Analyse unterminiert eine trivialmythologische Schilderung von Sibels Beziehung zu dem fahnenflüchtigen Ali (Erkan Kolçak Köstendil). Sie begegnet ihm in Erwartung des Wolfes und trifft ihn an dessen Stelle. Ali ist auch noch als Verletzter und Gejagter außerordentlich stark – ein Kurt (Wolf und so auch türkischer Vor- und Zuname) wie aus dem Bilderbuch, dem, und da geht der Kitsch los – Sibel aka Kırmızı Başlıklı Kız (Rotkäppchen) erliegen möchte. Unterdessen befragt sie ihre Reize und manövriert mit Lippenstift und Brautkleid; obwohl Sibel nie reizvoller wirkt, als im kurdischen Milizstil – eine Freischärlerin im Kampf um ihre persönliche Autonomie.
„Sibel“, Spielfilm, Frankreich/Deutschland/Türkei/Luxemburg 2018. Regie: Guillaume Giovanetti, Çağla Zencirci. Mit Damla Sönmez, Emin Gürsoy, Erkan Kolçak Köstendil.