Shoplifters
Von Jamal Tuschick // 9. Januar 2019 // Tagged: featured // Keine Kommentare
Fabulierte Normalität
Die japanische Gesellschaft wird von einem gewaltigen Konformitätsdruck erpresst. Wer an der Mitte vorbeilebt, trägt die Male eines Aussätzigen. Er ist stigmatisiert und erscheint auf eine schicksalhafte Weise verworfen. In „Shoplifters“ erhebt Hirokazu Koreeda solche Grenzgänger*innen zu Subjekten einer emphatisch-realistischen Darstellung. Der Regisseur zeigt, dass ein Gesellschaftsmosaik ohne seine Held*innen nicht vollständig wäre.
Koreeda schildert eine als Familie sich am Stadtrand von Tokio unauffällig machende, matriarchale Gang, die im Verlauf des Geschehens nicht nur ihre Tarnung verliert. Auch das innere Gefüge zerbricht. Am Ende beobachten die Zuschauer*innen den Zusammenbruch eines lügenbasierten Systems.
Die Lumpen des Legalen
Mit dem Verlust des Zusammenhalts gehen gravierende individuelle Verluste einher. Die Gesellschaft schlägt zurück. Sie trifft jede(n) Außenseiter*in anders. Gleichzeitig offenbaren sich in den Auflösungsprozessen die Trennlinien (sowie die unterschiedlichen Erwartungen) innerhalb des Ensembles.
Die Kamera folgt oft der Perspektive eines Zehnjährigen. Shota (Jyo Kairi) unterstützt seinen Nährvater, den Bauarbeiter Osamu Shibata (Lily Franky). Beide klauen in Supermärkten nach einem von Osamu ausgefeilten Konzept. Osamu erzieht mit Erklärungen, die nur in seiner Sphäre Gültigkeit haben. So erklärt er, „die Waren in einem Geschäft würden zunächst noch niemandem gehören“. Zur Schule gingen nur Kinder, die zuhause nicht lernen könnten. Osamu hat eine eigene Erzählung für Shota, in der fabulierte Normalität die kriminelle Sonderstellung der „Familie“ aufsaugt. Der Trosttext funktioniert als unsichtbare Abschirmung und schafft brüchige Identität.
Gefühlsverbundenheit in der Notgemeinschaft
Die Katastrophe schleicht sich ein als das Duo ein Mädchen aufpickt, dass seinen bösartigen Eltern vorsätzlich verlorenging und bis zur Müllesserei verwahrloste. Osamu integriert
Yuri (Sasaki Miyu) in seine, von der Greisin Hatsue (Kiki Kilin) dominierte Randgruppe. Hatsue spielt die gütige Großmutter. Ihre wahre Rolle hängt von lauter Berechnungen ab. Während die jungen Mitglieder vor allem nach Liebe gieren und in der Gefühlsverbundenheit der Notgemeinschaft den größten Wert erkennen, erachtet Hatsue Geld für den entscheidenden Faktor.
Sie ist gerissen bis zur Gemeinheit. Alle hängen von ihr und ihrer Witwenrente ab. Ihre Tochter Nobuyo (Ando Sakura) ist Osamus Frau. Sie arbeitet in einer Reinigung. Deren Halbschwester Aki (Matsuoka Mayu) trägt zum Unterhalt mit Stripdiensten bei.
Yuris Aufnahme in die Familie ist in der juristischen Betrachtung eine Entführung. Osamu gibt ihr den Namen Lin und verlangt von Shota, in ihr eine Schwester zu sehen. Shota versucht, sie zu bewahren, aber natürlich haut das nicht hin.
Hatsues stirbt, Nobuyo verliert ihre Arbeit
Osamu möchte, dass Shota Papa zu ihm sagt. Shota sträubt sich. Er reagiert auf Widersprüche und andere Rätsel, die in der Katharsis einer totalen Auflösung ihre Bedeutungen verlieren. Mitarbeiter*innen des Jugendamts leisten Aufklärungsarbeit in den schwächsten Szenen. Dann ist alles Pädagogik in einem Unterbau der Herrschaftsverhältnisse.
Nobuyo geht für ihren Mann ins Gefängnis, die beiden verbindet auch ein gemeinschaftlich begangener Mord.
„Shoplifters“, Spielfilm, Japan 2018. Regie: Hirokazu Koreeda. Mit Jyo Kairi, Lily Franky,
Sasaki Miyu, Kiki Kilin.