Piripkura – Die Suche nach den Letzten ihres Stammes

Von  //  10. Dezember 2018  //  Tagged: ,  //  1 Kommentar

Dicht bestandene Freiflächen

Erst lassen sie sich in einem Verschlag volllaufen und dann auf einer Ladefläche erschüttern. Auf Holzwegen erreichen sie letzte Punkte der Zivilisation im Amazonasgebiet. Sie schlagen sich mit Macheten in den Dschungel, bis zu den verschwiegenen Dörfern der Indigenen. Sie kappen die Sehnen der Bögen und setzen die Hütten in Brand. Die Aufgeschreckten erwarten Schrotladungen, sie werden abgeknallt wie Hasen, während ihre Mörder nichts zu befürchten haben.

Jair Candor ist mit den Begriffen solcher Waldmenschen vernichtender lateinamerikanischer Frontier-Hellbillys sozialisiert worden. Entfallen sind ihm die Stadien hin zu einer persönlichen Überwindung der Begriffe. Erstaunt stellt Candor fest: „Irgendwann war die Verachtung weg.“
Seither hilft er letzten, als Fortschrittshemmnisse wahrgenommenen Repräsentanten ursprünglicher Daseinsweisen, am Leben zu bleiben. Dazu brauchen sie ihre angestammten Räume; das sind dicht bestandene Freiflächen. So fragil sie im Gegenlicht der technischen Welt erscheinen, so robust sind sie im Urwald. Beinah jede Berührung mit Weißen birgt das Risiko einer Infektion. Die Indigenen müssen sich vor den modernen Brasilianern hüten.
„Sie sind von sanfter Art und ohne Arg und Falsch. Sie töten einander nicht und berauben sich nicht der Freiheit. Sie führen keine Kriegswaffen und sind so furchtsam, dass ein einziger von uns reicht, um ihrer hundert dahinfliehen zu lassen. Sie glauben alles, was wir ihnen sagen“. Kolumbus 1492 über die Bewohner von Hispaniola (heute Haiti).
Candor steht als passionierter Hüter der Verdrängten und Koordinator der brasilianischen Indigenenschutzbehörde (FUNAI) im ständigen Kampf mit den Agenten des Raubbaus. Die unkontrollierte Abholzung sorgt für Verheerungen, die man auf Satellitenbildern erkennen kann. Die Verwüstungen sieht man auch im Film. Candor nutzt die Transportpisten der Abholzer, um am Saum der Zerstörung Beweise für die Existenz hochgradig dezimierter Stämme zu finden. Die Piripkura sind auf drei Personen gewalttätig reduziert worden. Rita dient Candor als Gewährsfrau. Sie hat sich auf einem gerodeten Zipfel in absoluter Unwirtlichkeit etabliert. Gelegentlich begleitet sie die Fährtensucher in ihre erste Heimat. Sie gewinnt da sofort ihre Lebhaftigkeit. Ihr Bruder und ein Neffe sind die letzten ihres Stammes und noch perfekt verhaftet in der tropischen Eigentümlichkeit. Man findet sie nur, wenn ein Bedürfnis ihnen dazu Anlass gibt. Die Dokumentarist*innen hätten mit Phantomen drehen müssen, wäre den Regenwaldläufern nicht das Feuer ausgegangen. Pakyî und Tamandua durchstreifen ihr Habitat mit einer Fackel, die stets ersetzt wird und so jahrelang Feuer liefert. Die erloschene Flamme war ein Segen. Ihr Erscheinen vor der Kamera beweist besser als jeder fotografierte Fußabdruck oder aufgegebene Unterstand, dass da noch welche atmen, die Anspruch auf unberührte, wenn auch schwer bedrängte Natur haben. Eben deshalb machen die Raubbauern und Goldgräber kurzen Prozess mit den Erben irdischer Vollkommenheit. Ihr Tod gibt das Land frei. Die zwei kauzigen Piripkura-Männer garantieren die Unantastbarkeit ihres Streifgebietes. Sie sind übrigens „kerngesund“, wie eine Ärztin feststellt. Die Diagnose ist das Erfreulichste an der Dokumentation.

Nachtrag

Silberfische und Wanderratten sind Kulturfolger. Ein verbreiteter Standpunkt des 19. Jahrhunderts trug die These, dass jeder Kulturfolger erfolgreicher mit dem Kulturschaffenden (weißen Mann) sympathisiere als der gemeine Wilde in seiner Art. Die Kirche bewahrte dem „Indio manso“ ein Daseinsrecht in seiner Verniedlichung. Sie stellte ihn als armes Kind hin.
Man widersprach ihr: Gegen die Behörden (die es auf eine Vernichtung der Indianer abgesehen haben) soll nicht der leiseste Vorwurf erhoben werden. Denn gewiss wird der Zivilisation mehr mit der Ausrottung als mit der Erhaltung der Wilden gedient.
Autoren setzten „barbarisch und human“ vor Ausrottung und Erhaltung, doch barbarisch erschien ihnen allein die Erhaltung. Sie forderten den Mut, die Sache zu Ende zu bringen. Sie nannten es Feigheit, den aus dem Kuckucksnest der Steinzeit gefallenen Wilden im Elend zu lassen, wo er doch nichts anderes als Elend vererben konnte.

Piripkura – Die Suche nach den Letzten ihres Stammes/ Brasilien 2018, Dokumentarfilm, Portugiesisch mit deutschen Untertiteln. Regie: Renata Terra, Bruno Jorge, Mariana Oliva

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