Reise nach Jerusalem
Von Jamal Tuschick // 18. November 2018 // Tagged: Deutsches Kino, featured // Keine Kommentare
Quälend. Lucia Chiarlas Spielfilmdebüt ist der Film zum #Unten.
Alice ist okay. Sie beherrscht das Spiel der Selbstbehauptung. Sie weiß, es könnte ihr auch noch viel schlechter gehen als nachgeschulte Online-Redakteurin mit einem ergrauten Hochschulexamen im Bewerbungsportfolio.
Wahrscheinlich war es schon immer so und man hat einfach nur jene schnell vergessen, die eben noch neben einem in der Preview des neuen Wimwenders saßen, schon ein bisschen abgewetzt und angeranzt. Wer zu tun hat, bleibt nicht oder steht zumindest nicht allein herum nach einer Veranstaltung und vor dem Salzgebäck in normierten Aufschüttungen. Die Kellnerinnen sind natürlich auch Germanistinnen und Marketingexpertinnen, sie legen nur größeren Wert auf Geld als du und die anderen Free Lancer.
Alice verzehrt einen Traum. Sie investiert ihre Kraft in das Illusionstheater Aufstieg aus kleinen Verhältnissen, deren geringe Reichweiten sie schließlich sogar noch unterschreitet. Hochmut kommt vor dem Fall. Schuster bleib bei deinen Leisten. Am Küchentisch der freakigen Eltern wird ihr klargemacht, dass sie nehmen muss, was sie kriegen kann. Der Vater sagt: „Wir sind die letzte Generation mit einer garantierten Rente.“
Nach uns die Sintflut und vorher noch ein Wohnmobil, finanziert mit dem Hochzeitsgeld der ledig gebliebenen Tochter aus dem Sparstrumpf einer verblichenen Oma.
Quälend genau schildert Lucia Chiarla in ihrem ersten Spielfilm „Reise nach Jerusalem“ den Untergang einer Frau in Zeiten des Neoliberalismus. Aufgewachsen mit den Versprechen der Bildungsreform, individualisiert sie sich als junge Erwachsene – anstatt sich zu vernetzen und in einer Alphakonstellation unentbehrlich zu machen. Sie setzt auf Qualifikation, Mobilität und Charme und erkennt ihren Unique Selling Point ausgerechnet in der forcierten Anpassungsbereitschaft aller Wettbewerber*innen. Alice vermutet hinter den Ecken und Kanten der Arbeitswelt einen Hausmeister von göttlicher Güte. Sie wähnt sich in einer Sphäre der leistungsgerechten Verteilungsgerechtigkeit. Dass sie selbst als Unterprivilegierte im globalen Maßstab noch überprivilegiert ist, blendet Alice aus. Mit siebenunddreißig verliert sie ihren Job, mit neununddreißig ihre Fassung.
Das ist die Geschichte. Sie beginnt in einer Kältekammer der Selbstoptimierung und endet in einer Selbstentführung im Wohnmobil. Eva Löbau spielt die zunächst Unermüdliche, nicht klein zu kriegende Alice. Alice weiß nämlich, dass sich die Spreu vom Weizen da trennt, wo es um Frustrationstoleranz geht. Auch wenn alles klemmt, muss man so tun als ob sich das Erfolgsrad gleich weiterdreht. Alice bleibt im Flow mit TV-Tai Chi und Dauerlauf. Im Jobcenter lässt sie sich nach hinten durchreichen, bis zur letzten Maßnahme.
Man darf sich nicht nachgeben. Die Groschen für das kleine Bier, um im Kneipenkreis der Ex-Kollegen das Gefühl dazuzugehören nicht ganz zu verlieren, spart sich Alice vom Mund ab. Endlich setzt auch sie das Frostschutzmittel Alkohol aus dem Supermarkt für den häuslichen Gebrauch ein. Sie bezahlt einen Gelegenheitssexarbeiter, der aber auch ein Straßenmusiker ist und wahrscheinlich Schriftsteller, mit Benzingutscheinen. Sie vermietet ihre Wohnung im Airbnb Modus. Für die zahlenden Gäste wird die Heizung aufgedreht, denn es ist Winter in Berlin.
Ich sehe den Film im Berliner Lichtblick Kino in der Gesellschaft kreativer Greisinnen. Eine ist mit dem Gehwagen gekommen, eine an Krücken, und alle kennen Alice aus dem Bekanntenkreis und den Erfahrungen, die man mit sich selbst macht. Die Generation der ersten Gesamtschüler*innen erlebt das Ausbleiben der Rente bei steigenden Lebenshaltungskosten und verschwundener Attraktivität. Jede könnte Alice zurufen: Dir geht es doch noch Gold.
Auch darum dreht sich die „Reise nach Jerusalem“ – wie der Wunsch, kreativ zu sein, zum Fluch wird. Alice findet supersmarte Lösungen für alle möglichen Miseren und Malheurs. Sie ist die nicht (mehr) krankenversicherte Übermotivierte, der kurz vor einem Bewerbungsgespräch ein Zahn abbricht. Sie ist die Schlaumeierin, die eine chinesische Suppenküche zum Qi Gong Tempel erklärt und auch so fotografiert, um bei der Bewerbung mit hautnahem Chinawissen aufzutrumpfen. Es tut weh, Alice so kreativ zu erleben.
„Reise nach Jerusalem“, Deutschland 2018. Regie: Lucia Chiarla. Mit Eva Löbau.