Driver
Von Jamal Tuschick // 5. Juli 2018 // Tagged: featured // Keine Kommentare
No Fake Jews – Nachrichten vom Jüdischen Filmfestival
Im Zwinger der Ignoranz. Yehonatan Indursky drehte 2017 in der ultraorthodoxen Verdichtung Bnei Berak ein Wintermärchen
„Nicht touristisch“, nennt Kinokoryphäe Frank Stern die Perspektive von Yehonatan Indursky auf Bnei Berak in seiner Einführung. Stern schildert die ultraorthodoxe Verdichtung in der Tel Aviver Agglomeration Gusch Dan als aschkenasisch-religiösen Binnenkosmos, räumlich nah, seelisch jedoch weit entfernt von den Hypes der Großstadt. Da inszenierte Indursky 2017 ein Wintermärchen. Driver folgt einer Mäander der Trauer.
Nach dem Unfalltod ihres jüngeren Bruders erlebt Chani die weitere Zerstörung ihrer Familie im Verlust der vom Schmerz abgesprengten Mutter. In der Nacht, bevor die Frau ihren Mann mit der Absicht verlässt, in Tel Aviv Gott abzuschwören und auf den säkularen Magistralen eine Andere zu werden, fragt sie die Tochter: „Möchtest du mitkommen.“
Manuel Elkaslassy spielt Chani als eine den Erwachsenen melancholisch überlegene Person. Chani will ihren Vater nicht allein lassen. Nachman Ruzumni repräsentiert den stoisch trauernden, von seiner Religion eingehegten Vollstrecker des Nötigen. Drohen die Stricke der Selbstbeherrschung zu reißen, kippt er sich Schnaps hinter die Binde. Er qualmt seine Not zu.
Eine gute Geschichte ist niemals eine Lüge
Nachman geht einer nächtlichen Beschäftigung am Rande der Legalität nach. Er chauffiert Bedürftige zu Betuchten, wo sie ein Almosen mit einer berührenden Geschichte gleichsam zu erwerben hoffen. Nachman liefert den Riemen und das Repertoire einer effektiven Präsentation. Er erklärt jedem Wahrheitsliebenden:
„Eine gute Geschichte ist niemals eine Lüge.“
„Frag nicht um Erlaubnis. Der Bettler bestimmt die Regeln.“
Nachman kritisiert und korrigiert seine Klienten. Er stimmt die Klinkenputzer von der überlegenen Warte des Fahrersitzes ein und macht sie fit. Im Gegenzug beteiligen sie ihn an ihren Gewinnen.
Moshe Folkenflick verkörpert die Nachtgestalt als Untergrundpersönlichkeit. Er spielt einen heiter deprimierten Solisten mit mächtiger Verdrängungspotenz. Nachman ignoriert sich, wo er nicht funktioniert. Seinem Leiden gibt er kaum Raum. Er hält es in einem Zwinger der Ignoranz. Er sammelt Geschichten. Als Quelle dient ihm eine Greisin, die wie in einem amerikanischen TV-Krimi der Achtzigerjahre seinen Anruf vor einem öffentlichen Münzfernsprecher erwartet. Eines Nachts bietet sie ihm folgende Sentimentalität an:
Eine Frau kommt heim und findet ihren greisen Gatten so verdattert, dass er sie nicht wiedererkennt. Allerdings reagiert er mit Erinnerungsprofiten auf Lieder der Beatles. Die Frau will ihm so auf die Sprünge helfen. Sie hat auch noch Platten, die helfen. Allein der Plattenspieler fehlt. Soll eine doch um Geld für den Apparat gegen Demenz bitten.
Der Film voltiert aus seiner Logik, indem die Erzählerin beim nächsten Wiedersehen ihren Mann nicht erkennt. Trotzdem setzt sich keine absurde Sicht auf das Geschehen durch. Nachman unterhält freundschaftliche Beziehungen zu einem Duo, das mit ihm beim Pokern in einer Imbissbude zum Trio wird. In diesem Kreis flottieren kuriose Geschäftsideen. Zum Beispiel will man mit einem Lastwagen Kinderwagen in Tel Aviv einsammeln und sie sonst wo verscherbeln. Eines Nachts, Nachman hat Chani bei seiner Mutter untergebracht, fahren die Drei wegen einer Fuhre Schnee nach Jerusalem. Unterwegs erfährt der Vater, dass seine Tochter abgängig ist. Er entzieht sich dem Vorhaben, Schnee von Jerusalem nach Bnei Berak zu schaffen, entdeckt Chani in einer märchenhaften Szene und geht mit ihr nach Hause. Am nächsten Morgen liegt zum ersten Mal seit siebzig Jahren Schnee in seinem Viertel. Der Schnee ist vom Himmel gefallen und gibt der Anstrengung des Duos, das tatsächlich mit Schnee auf der Ladefläche ankam, den trostlosen Anstrich der Vergeblichkeit. In der letzten Einstellung stehen die von dem Naturereignis überraschten Gläubigen wie Spielfiguren auf einem weißen Platz.
Regisseur Indursky scheint seine Hauptdarsteller*innen danach ausgewählt zu haben, wie viele Großaufnahmen ihre Gesichter vertragen. Die Kamera rasiert ständig die verletzlichen Partien von Tochter und Vater. Jedes Mundwinkelzucken wird breitgetreten. Die Gesichter von Manuel Elkaslassy und Moshe Folkenflick brennen sich ins Zuschauergedächtnis. Während ich schreibe, laufen Spielarten der Gemütsentfaltung über das Laufband der Erinnerung.
Driver, Spielfilm, Israel/Frankreich 2017, Regisseur: Yehonatan Indursky, mit Moshe Folkenflick, Manuel Elkaslassy, Yaël Abecassis