Sehenswerte Turbulenzen in „Mein Ein, mein Alles”
Von Jamal Tuschick // 3. April 2016 // Tagged: featured // 1 Kommentar
In den späten Achtzigern teilte ich die Vorliebe für einen kleinen Italiener mit einem gut aussehenden Amerikaner. Er übertraf jedes Virilitätsklischee. Seine narkotisierende Wirkung unterlief er mit einer besonders akzentuierten Leutseligkeit.
John redete mit jedem. Man konnte in seiner Gegenwart nicht in sich gekehrt bleiben. Notorisch stärkte er den beliebigsten Gemeinschaftssinn. Er kriegte Fremde dazu, ihn von ihren Tellern essen zu lassen. Er arbeitete im Tigerpalast als Kartentrickkönig. Gern erklärte John die Mechanik seiner Kunststücke. Er bewies eine unbegreifliche, doch vollkommen sinnlose pädagogische Geduld. Seine Aufgeschlossenheit war immer ein Einbruch; etwas Gewaltsames. Darin erinnert mich das Spiel und die Erscheinung von Vincent Cassel in „Mein Ein, mein Alles“. Cassel verkörpert einen Edelwirt mit den Zutaten des Lebemanns. Automatisch prüft der Zuschauer die Valeurs, fasziniert und abgestoßen von den Überschüssen. Auch Georgio legt es darauf an, erkannt zu werden. Seine ständigen Offenbarungseide erlebt er als Begabungsbeweise. Ihm ist es gegeben, leicht zu leben. Soll jeder froh sein, der mittun darf.
Georgio ist Draufgänger. Ohne Rücksicht auf fremde Verluste legt er es darauf an drauf zu gehen. Das passt, Cassel verlängert als bezwingender Taugenichts eine Traditionslinie von Gabin über Belmondo bis zum jungen Depardieu.
Die geschäftsmäßige Verbindung von Wahnsinn & Charme – Gegen jeden Vorwurf versichert sich Giorgio mit Offenheit. Das gestattet ein brutales Vorgehen.
Giorgio ist der Wegelagerer an den Strecken einer Frau, die ihn zunächst nur zu ihrer Beunruhigung zulässt. Ihre Reserve provoziert den Wunsch, eine Festung zu schleifen. Das ist ein himmlisches Schauspiel. Giorgio bricht jeden Widerstand mit Großartigkeit. Er geht die Wände hoch und durch die Decke. Er zerlegt die Ruhe- und Rückzugsräume der Anwältin Tony.
Emmanuelle Bercot spielt die Sachliche, wie sie aus ihren Schalen geschlagen wird. Sie demütigt sich nicht bis zu gewissen Nachlässigkeiten, die Abrechnungen unter Liebesleuten oft korrumpieren. Nach einer rasch vollzogenen Trauung, der Geburt eines absoluten Wunschkindes und vielen Eskapaden, lässt sich Tony im Vollbesitz ihrer Liebe zu dem Hasadeur Giorgio scheiden. Der Scheidungstermin liefert einem Neuanfang das prägnate Datum. Die nach einem Skiunfall invalide Tony gewöhnt sich an einen frivolen Umgang mit Regalien des Citoyens.
„Mein Ein, mein Alles”, Frankreich 2015 – Regie: Maïwenn. Buch: Maïwenn, Etienne Comar. Kamera: Claire Mathon. Mit: Vincent Cassel, Emanuelle Bercot, Louis Garrel, Iseld le Besco, Chrystèle Saint-Louis Augustin, Patrick Raynal, Slim El Hedli
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Mein ein, mein alles
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