Der Räuber
Von Katrin Krause // 12. April 2016 // Tagged: Banküberfall, Berliner Schule, featured, Heisenberg // Keine Kommentare
Johann Rettenberger macht große Schritte. Er trägt einen grauen Trainingsanzug mit orangem Streifen und läuft konzentriert mit angespannten Muskeln, geradem Rücken und fahlem Gesicht monoton, im engen Gefängnisinnenhof seine Runden. Er wählt die Strecke mit dem geringstmöglichen Abstand zur Gefängnismauer, die Strecke mit dem größten Durchmesser. Weitestmöglich entfernt von den anderen Insassen, die sich langsam schlurfend und scheinbar nur im bräsigen Kollektiv bewegen. Er nutzt nicht nur jeden Meter, sondern auch jede Minute. Er läuft bis zum Schluss. Die Gruppe ist schon drinnen. Er muss persönlich vom Wärter gerufen werden. Selbst das bringt ihn nicht aus der Bahn. Er beendet seine Runde noch. Dann wird er in seine dunkelgrün–düstere Gefängniszelle gebracht: Ein Bett, ein Laufband, kein Platz. Über der Heizung stehen auf einem Brett aufgereiht mehrere Laufschuhe. Mehr passt nicht, mehr braucht er nicht, mehr darf er nicht. Als der Wärter noch die Tür schließt, steht Rettenberger schon auf dem Laufband. Die Tür ist zu, er ist allein und das Laufband beginnt sich zu bewegen. Das Pfeifen und Schleifen vom häufig gebrauchten Laufband, das gleichmäßige Trommeln seiner Füße, der starre Blick, ohne Ziel. Vor ihm ein milchiges, undurchsichtiges Fenster, die Umrisse von Gitterstäben. Keine Aussicht, kein Rauskommen. Ein boshafter Werbespot für einen Laufschuhhersteller.
Benjamin Heisenbergs „Der Räuber” beruht auf einer wahren Begebenheit. Der Bankräuber und leidenschaftliche Marathonläufer Johann Kastenberger, genannt “Pumpgun – Ronnie”, überfiel in den 80er Jahren getarnt durch eine Ronald Reagan Maske und mit einem Gewehr bewaffnet mehrere Banken. Die Handlung in Heisenbergs Film setzt ein, kurz bevor Johann Rettenberger aus dem Gefängnis entlassen wird, ruhig sitzt er noch die Warnung und Lektion seines Bewährungshelfers aus, dann ist er frei und wir folgen ihm. Heften uns nicht eingeladen an seine Versen. Manchmal sitzen wir ihm im Nacken, hören ihn keuchen und möchten näher ran. Dann beobachtet man ihn aus der Ferne. Er ist schnell, läuft geradlinig und bleibt immer im Zentrum.
Wenn er einen Marathon läuft, läuft er auf uns zu. Wenn er eine Bank ausraubt, läuft er vor uns weg. Auf dem Raubzug trägt er eine bleiche schmallippige Maske, sonst trägt er ein bleiches schmallippiges Gesicht. Greifbar ist er nie. Nicht für uns, nicht für seine einzige Bekannte, seinen Bewährungshelfer, nicht für die Polizei oder die indiskreten Nahaufnahmen seines Steingesichts. Manchmal, wenn er so intensiv im geklauten Auto sitzt und unterwegs ist zu einem Einbruch kommt man nah ran an seine fahle Fassade, eine stumpfe Belmondo-Pappfigur, auf der selben Reise, aber ganz und gar nicht außer Atem. Man denkt an Michel Poiccards erste Sätze: “Eigentlich bin ich ja ein Schwein, aber was hilfts, es muss sein.” Und für Rettenberger muss es auch sein. Er will nicht rauben, er will nicht laufen, er muss. Er kann doch nichts dafür. Er kann sich selber nicht entkommen. Er ist Fritz Langs M, und die Stadt kann ihn nicht fangen.
Es muss zum Beispiel auch sein, dass er im Auto Radio hört. Er zwingt einmal seine gezwungene Beifahrerin das Radio anzumachen. Ein anderes Mal wird die schwere Stille der Berliner Schule durchbrochen durch einen lauten Popsong: “There’s something ‘bout this. Let’s keep it moving. I don’t know what it is, that makes me feel like this. I don’t know who you are.” Und dann wird deutlich, dass gar nicht hinterfragt werden soll, wer Rettenberger ist. Er ist halt so. Und er muss in Bewegung gehalten werden. Der maschinisierte Mann, der Prototyp des neuen Menschen, der technisierte Autolenker. Vorbei ist die Zeit der Flaneure im Autorenfilm. Heisenberg wirft uns in die karge Neuzeit der Nouvelle Vague Allemande. Rettenberger ist ein Apparat, ein Mechanismus, der so lange weiter laufen muss, der so lange seine ihm eingeschriebene Aufgabe erledigen muss, bis der Akku leer ist. Für etwas anderes ist er nicht geschaffen. Er entbehrt jede Vernunft. Wo andere Kriminelle einen Fluchtplan haben, hat er bloß zwei Beine. Er muss laufen und rauben, denn er kann nicht anders.
So funktioniert Rettenberger eher als ein gelungener „Apparat Widerstand“. Seine auf den ersten Blick sichtbare Ablehnung gilt dem Bewährungshelfer und der Polizei. Was ihn aufhält wird eben zum Feind deklariert. Hier sticht besonders eine Szene mit kalter, mechanischer Härte heraus : Der aufdringliche Bewährungshelfer spürt Rettenberger nach einem siegreichen Marathon auf, hopst ihm durch schmale Hintergärtenwege nach und redet sich den Mund fusselig. Was man ihm zu verdanken hätte, welche Position er bekleide, wozu er befugt sei, was wichtig wäre. Die Plapperei wird zum Hintergrundknistern. Rettenberger braucht ja gar nicht zu wissen, was wichtig wäre. Er muss nur weiter. Der flapsige Sozialliberalist lässt sich nicht abwimmeln. Er wird zum Hindernis. Deswegen schlägt Rettenberger mit seiner gerade gewonnen Trophäe zu: Fest und oft genug. Die Trophäe bedeutet ihm nichts. Sie ist ein Symbol für das Ins-Ziel-kommen; für Abgeschlossenheit. Husch, er hat sie eingepackt. Rettenberger beendet nicht, er unterbricht. Er hat keinen Mord begangen, er hat ein Problem gelöst.
Doch die totale Resistance, die “Der Räuber” formuliert, gilt nicht dem Menschen, nicht dem dicken gutmütigen Polizisten, nicht dem aufdringlichen Bewährungshelfer. Sie wird weder vom Protagonisten selbst formuliert noch thematisiert. Heisenberg lässt seinen menschlichen Motor die erbeuteten Geldbündel in einen schwarzen, undurchsichtigen Müllbeutel stopfen. Er versucht die Scheine zu komprimieren. Als müsse der Zuschauer selbst sich für sie schämen. Das schwarze Loch aus Plastik ist ein bewusstes Vergehen am Kapital, der Bankraub um des Raubens, nicht um des Geldes Willen, ist eine intendierte Absage an den Kapitalismus. Der wahre Räuber ist das System der Gierigen, Maßlosen und Selbstsüchtigen. Das asketische Triebwerk Rettenberger ist nach Brechts Dreigroschenoper der Dietrich. Er hat eine Funktion und funktioniert nach dieser. Das schlechte System ist die Bank selbst: “Was ist schon ein Dietrich gegen eine Aktie. Was ist ein Einbruch in eine Bank, gegen die Gründung einer Bank. Was ist die Ermordung eines Mannes, gegen die Einstellung eines Mannes.”
Diese angestellten Menschen umgeben Rettenberger permanent. Das Arbeitsamt im Hintergrund ist ein Wimmelbild, während die Beamtin den gut gemeinten Rat “Niemand wartet auf Sie!” zum Thema des Bildes macht. Der Park ist voll von bemühten kleinen Individualisten mit Kinderwagen, Picknickkörben und Zielen. Die Kamera erzählt von oben, wie egal die sind. Die Bilder erlauben immer wieder Vergleiche zwischen den Anderen und dem Räuber selbst im selben Bildrahmen. Nur durch den Vergleich mit dem Eingeschränkten selbst, erkennen wir wie eingeschränkt die Anderen sind. Mit wippenden Stirn-Lampen, rennt eine Marathongruppe, in ihrer Mitte der Marathonmann selbst, durch einen dämmernden Nicht-Ort auf uns zu. Jeder für sich, genau so wie der Protagonist: Aliens der Leistungsgesellschaft: in Bewegung, in die gleiche Richtung und betäubt.
In seinen letzten Szenen, in denen der verratene und körperlich verletzte Rettenberger vor der Polizei flüchtet, kommt der Film zu sich selbst. Was Heisenberg uns mitgibt, rast in fulminantem Crescendo über die triste, österreichische Autobahn. Bis dato erzählte der Film von Stillstand oder von Bewegung. Mit seiner Bekannten und auf dem Fahrersitz blieb die Zeit in Rettenbergers eiserner Miene stehen. Kein Wort, keine Teilnahme. In den Momenten des Banküberfalls ist es, als hätte er all seine Ressourcen, all seine Worte für genau diesen Moment aufgespart. Für lautes Brüllen und schnelles Rennen. Die Autobahn an sich ist hier das asphaltgewordene Symbol der Bewegung. Schnelles Fahren und laute Motoren. Rettenberger jedoch wird ruhiger, seine Wunde zwingt ihn bei den höchsten Drehzahlen zum endgültigen Stillstand: Die Gleichzeitigkeit von einer absoluten Nicht-Beweglichkeit und 180 Stundenkilometern.
Außerdem ist bezeichnend dass diese Figur, gemacht um der Ziellosigkeit Form zu geben, ihr Ende auf einer Straße findet, die endlos an den unerreichbaren Horizont zeigt. Rettenberger, der Motor- Mensch stirbt als Glied der Technisierung: Automatisch fährt er weiter, während seine Verfolger, das vermeintliche Ziel im Visier, an ihm vorbeiziehen, die Welt rennt weiter, die Scheibenwischer schieben sich über die Windschutzscheibe, Autos fahren vorbei, es regnet. Johann fährt auf den Seitenstreifen und erliegt seiner Verletzung. Unser Blick bleibt auf den angetriebenen Wischarmen der Windschutzscheibe. So wird die Autobahn seine letzte Straße Beliebigkeit, seine Road – not taken.
Der Räuber, Österreich, Deutschland 2010. Regie: Benjamin Heisenberg
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