Die Lügen der Sieger
Von Silvia Szymanski // 17. Juni 2015 // Tagged: Deutsches Kino, featured, Männer während der Verwurstung, Politik // 1 Kommentar
Filmtagebuch einer 13-Jährigen: Sommer 2015, zuhause, Nr. 1
Kein Hofbauerkongress in diesem Sommer. Ich vermisse die Leute und das gemeinsame Filmgucken. Stattdessen schau ich, dass ich einige Texte über Filme fertig schreibe, die ich schon länger in der Schublade habe. Und ich war in Essen, zum ersten Mal bei einer Filmpremiere, in der „Lichtburg“. Oma und ihre glamourgeile Freundin, die ein Kino in unserem Nachbarstädtchen besaß, wären stolz auf mich gewesen. Helmi Beisiegl. Sie hat einmal Grete Weiser nach einer Filmpremiere auf dem Tisch tanzen sehen! Aber ich schweife ab.
Die Lügen der Sieger (Christoph Hochhäusler, 2014). Durch die Stadt und ihre Fenster. Die Augen vermischen sich mit denen eines Mannes, Fabian, in der Nachrichtenredaktion eines Hauptstadtmagazins. Er/man sieht die menschgemachte Wirklichkeit nicht allein direkt, sondern zugleich in Spiegelungen im Autolack, im Glas von Fenstern und Displays, gleitenden Bilderfolien, die sich über- und in einander schieben und deren Transparenz nicht zu mehr Durchblick, sondern zu mehr Spiegelungen führt. Alles ist unfasslich, trügerisch. Man kombiniert und rechnet, doch das führt zu keinem Ende, keiner Eingriffsmöglichkeit („Du möchtest wirklich physisch intervenieren?“ – so ähnlich wundert sich ein Mann im Film). Ein Mann in einem Zoo springt in einen Löwenkäfig und verliert seinen Kopf, aber das verschwindet, eins bewegt sich übers andere, wie beim wassergleichen Scrollen auf den Touchscreen-Oberflächen. Die Arbeitsabläufe mittels Monitoren, Tastaturen und Papieren – ein Mobile wechselnder Einblicke, hineinwehender Sätze – halten nicht fest, was sie ins Bewusstsein rufen; alles dreht sich wie auf Walzen, immer greift etwas ins Denken ein; wie bei einer Frequenzverschiebung ist da plötzlich ein Moment aus einem völlig anderen Film (Richard Brooks‘ „Deadline“): Das versetzt einen in Trance und in ein Fühlen, obwohl es vielleicht nichts zu fühlen gibt. Oder ganz anderes zu fühlen gäbe. Bis ein Bild bleibt, das keineswegs die Wahrheit ist.
Wie sehr die Realität fingiert und gescriptet wird, beschäftigt den Film auch in den Nebenhandlungen. So bei der schmerzhaft authentischen Pressekonferenz der Bundeswehr. Und besonders, wenn er verwundert durch die riesigen Hochhausfenster dem merkwürdigen Treiben der Lobbyisten bei ihrem Training zuschaut. Wie Schauspieler üben sie ihre geplanten Schritte, um die Geschehnisse = Geschäfte reibungslos unter der politisch-medialen Oberfläche laufen zu lassen. Ein bizarr „wichtiges“, paralleles Leben. Doppelleben auch in den Geschichten mit dem illegalen Glücksspiel und dem Fechten (wo der feste, transparente Brustschutz der Fechterin wie ein Fetischdessous aussah).
Es ist kein Idealismus, der Fabian zu seinen Recherchen treibt. Er möchte sich profilieren, ist stolz, etwas Unerhörtes herauszufinden und seine Story womöglich auf dem Titel zu sehen; er gehört, wie alle in dem Film, zu dem System, in dem er sich bewegt – allerdings, an diesem Punkt seiner Karriere, als Betrogener. Niemand ragt heraus, sie sind alle absorbiert – die hypermodern-futuristisch geformten Funktionsträger der Lobbyisten-Gang wie auch die beiden noch ungeformteren, restjugendlichen Hauptfiguren. Es bleibt ihnen bald nur noch so ein Rosebud-Dingchen für sich selber, wie der Hamster im Rad im Glashafen auf dem Nachttisch, den Fabian so zärtlich pflegt. Das erreichte die Herzen der vielen Frauen und Mädchen im Publikum; man hörte sie im Kino seufzen, als Fabian das niedliche Tier über seine Brust laufen ließ. Manche schrien auch leise auf und applaudierten erschrocken und erfreut, als einmal Fabians nackter Hintern und sogar ganz kurz sein Schwanz zu sehen war. Ich wünsche mir ja auch oft, in diesem Stil, mit dieser Feinheit wären sexuell explizitere Szenen in solchen Filmen möglich. Ich finde es so schade, dass der Zeitgeist das so wenig zulässt.
Vorher im Zug hatte ich schon angefangen, mich sehr wohl und irreal zu fühlen. Der Zug fuhr eine Strecke, die ich noch nie gefahren war, und hielt an Bahnhöfen wie „Forsthaus“ (einem verfallenen Haus, scheinbar mitten im Wald) und „Leverkusen Chempark“, einem Gebiet voller mir rätselhafter alter und neuer Industrieanlagen. Nun saß ich in dem riesengroßen Kino, wo ich niemanden kannte, und atmete die aufregende, modern poetische Schönheit dieses Films auf der großen Leinwand ein. Die Bilder, die an ihren Rändern schön viel „Nebensächliches“ mitfischen – Passanten auf den Straßen, die ihren Zielen jenseits des Filmes folgen, temporäre Plakate, Schaufenster, Reihen aufgestellter Waren, Zeitungsbüdchen, rauschender Verkehr… ich mag dieses Beiläufige, auch in (Genre)filmen der 60er/70er Jahre, sehr. Ich lasse mich dann immer wieder von den Einzelheiten ablenken und kann der Handlung nur eben gerade folgen, überfordert und hypnotisiert vom Lauf all dieser Dinge. Schuld an dem Rausch, den dieser Film verursacht, ist auch die schöne, ungewöhnliche Musik, abstrakt, sehr emotional; polyphone Klanggebilde, die sich wie zierliche Feuerwerkschrysanthemen plötzlich auffächern; filigrane Zeichnungen, die halbdurchsichtig etwas übermalen. Einmal wollte ich weinen, obwohl die Szene das nicht rechtfertigte. Es war, als Nadja und Fabian getrennt in ihren Betten lagen. Sie schauen den gleichen Wrestlingkampf im Fernsehen an und telefonieren miteinander. Er erzählt ihr, dass diese Kämpfe wie Storys von Autoren gescriptet werden (was ich auch noch nicht wusste). Sie waren so „unprofessionell“ erotisch und intim. Mein unbekannter Sitznachbar und ich entspannten uns und fingen an, uns auf einander zu beziehen, wenn wir uns in den Kinosesseln bewegten. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich wünsche mir im Kino oft, ich säße in die Arme eines Mannes gekuschelt, am besten noch mit einem Schnuller oder so was Ähnlichem im Mund.
D 2014, mit Florian David Fitz (Fabian) und Lilith Stangenberg (Nadja). Kamera: Reinhold Vorschneider, Schnitt: Stefan Stabenow, Musik: Benedikt Schiefer
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