Wenn es blendet, öffne die Augen
Von Jamal Tuschick // 19. März 2015 // Tagged: Dokumentation, featured, Österreichisches Kino // Keine Kommentare
Ohne Vorwarnung
„Wenn es blendet, öffne die Augen“ ist kaum zu ertragen.
Der Film dokumentiert den Alltag von Veteranen der ersten Heroinschwemme in Sankt Petersburg
Oh, flew in from Miami Beach B.O.A.C./ Didn’t get to bed last night/ On the way the paper bag was on my knee/ Man I had a dreadful flight/ I’m back in the U.S.S.R./ You don’t know how lucky you are boy/ Back in the U.S.S.R. (Yeah) „Back in the U.S.S.R.“
Der Anfang klingt nach Unterhaltung im Punkstil. Manche Filme schildern den Einbruch des Westens in die Post-Sowjetunion so, dass eine Nostalgie von schicker Tristesse auf dem Heimweg verdunstet. („Kino wird für Heimwege gemacht.“ Andreas Dresen) Darauf liefen meine Erwartungen an einen Abend im Krokodil hinaus. Das Kino in Prenzlauer Berg ist selbst filmreif, die sieben anderen im Saal sind weiblich und russisch. Sie tragen gute Sachen und Frisuren. Vom Stolz verhaftet, erwarten sie das Urteil der Zeit. In der zweiten Einstellung protokolliert ein Sozialarbeiter das Elend einer süchtigen Schwangeren.
„Seit wann stehst du im Drogenregister?“
„Ich glaube, seit Neunundneunzig.“
Der Fachmann bestärkt die Süchtige: „Es ist richtig, die Sucht dem Krankenhaus gegenüber zuzugeben. Das Kind wird mit Entzugserscheinungen geboren. Die Ärzte müssen wissen, weshalb es schreit.“
Der Sozialarbeiter fährt heim, im Auto sagt er: „Junkies sind offene Menschen. Es ist leicht für mich, sie zu erreichen.“
Ljoscha wirkt deprimiert und fast erloschen. Bald sieht man ihn im Zimmer einer Süchtigen. Hausbesuch, denke ich. Ich denke, Ljoscha versorgt eine Klientin mit einem Substitut. Er zieht eine große Spritze auf und verteilt die Dosis virtuos auf drei kleine Spritzen. Er redet so über die Sache, dass mir klar wird, dass ich bis eben auf einem Holzweg war. Ljoscha ist zuhause, selbst süchtig und versorgt seine Gefährtin. Wenn ich das richtig verstehe, hat er Schanna vor zwanzig Jahren mit HIV infiziert. „Er redete über Aids wie über einen Schnupfen“, erinnert sich Schanna.
Anfang der Neunziger überfielen HIV und Heroin die russische Jugend wie ein Rollkommando. Es gab keine Drogensozialisation, keine Vorwarnung. Das sagt der Film. „Wir wussten nichts. Wir wussten nicht, was Heroin bedeutet“, sagt Schanna. Kinder- und Jugendbilder zeigen ein blühendes Wesen, die Stadien der Verwandlung in einen lebenden Leichnam skizziert Schanna mit selbstironischer Schadenfreude. Aus ihr spricht Intelligenz und Poesie. Sie ist gelähmt, sieht nach Hemiparese aus.
Eine unbetrübte Greisin erscheint im Zimmer, es geht zu wie in einem russischen Roman. Zuhause ist Ljoscha bei seiner Mutter. Sie bewirtet Überlebende der „Generation Perestroika“. Sie teilt ihr Bett mit Schanna, die auch im Bett nicht aufhören kann zu rauchen. Klaustrophobische Stimmungen belasten die Szenen in einer Petersburger Platte. Ich mal euch jetzt nicht die Wohnung aus. Ljoscha ist der Hunger abhanden gekommen, die Mutter drängt. Ihre Liebe und milder Wahnsinn sind letzte Anker, an denen sie hängt. Man sieht sie bei ihrer Berufstätigkeit in einer Bahn. Sie bezweifelt den Wert der neuen Freiheit. „Wir hatten doch alles – Arbeit und Familie. Was will man mehr.“ Fotos, die Ljoscha gesund verewigen, sind ihr Schatz – der Sohn in Uniform, noch füllig. … Das Paar im Park. Ljoscha schiebt Schannas Rollstuhl. Schanna wünscht sich Kinderkram, sie hat sich in die Regression verabschiedet. Sie bläst Seifen der Fantasie. Dann ist sie wieder im Hypertext der Todesnähe. Ljoscha steigt dem Rollstuhl aufs Gestänge und nimmt eine Neigung im Gelände als Abfahrt.
Dokumentarfilm, Österreich 2014, Regie: Ivette Löcker