Coherence
Von Oliver Nöding // 20. März 2015 // Tagged: featured, James Ward Byrkit, Science Fiction // 1 Kommentar
Wer zur Hölle sind wir, was zeichnet uns aus, welches Gewicht haben unsere Entscheidungen und vor allem: Wären wir noch dieselben, wenn wir uns anders entschieden? Die Thesenlastigkeit, der Universalanspruch und der Drang in die Unendlichkeit, ins All, zum Großen, Unfassbaren, die das Science-Fiction-Kino oft dominieren, weichen in COHERENCE einer beklemmenden Intimität und einer fast tragikomisch anmutenden Erdgebundenheit. Die kosmischen Vorgänge, die die Geschichte in Gang setzen, und die wissenschaftlichen Erklärungsmodelle, die die Protagonisten bemühen, um ihre Lage zu verstehen, sind letztlich nur Hilfsmittel, um eine menschliche, allzumenschliche Frage zu beantworten. Die Antwort, die COHERENCE nahelegt, ist es auch, die ihn – mehr als alle dem Horrorfilm entlehnten Schauerzutaten – zu einem so hochgradig beunruhigenden Film macht. Etwas Science, etwas Horror: COHERENCE ist lupenreine Philosophy Fiction mit beachtlichem Verstörungspotenzial.
Während ein Komet in nächster Nähe an der Erde vorüberfliegt, treffen sich acht Freunde zum Essen. Schauergeschichten über vergleichbare Ereignisse werden schnell weggelacht, doch die traute Harmonie zeigt bald schon erste Risse: Die Tänzerin Em (Emily Foxler) ist wenig erfreut, dass Laurie (Lauren Maher), die Ex ihres Freunds Kevin (Maury Sterling) anwesend ist, und schlicht außer sich, als Kevin auch noch eine amüsante Anekdote aus seiner gemeinsamen Zeit mit jener zum Besten gibt. Bevor die Konflikte aber wirklich zum Ausbruch kommen können, fällt der Strom aus: Ein Albtraum für jeden fortschrittsverwöhnten US-Amerikaner, wie die darauf folgende Unruhe deutlich macht. Nur ein Haus in der Nähe zeigt noch Licht, also beschließen Hugh (Hugo Armstrong) und Amir (Alex Manugian), sich dorthin zu begeben, um sich nach der Lage zu erkundigen. Als die beiden jedoch wenig später wiederkommen und ratlos berichten, sie hätten sich in dem Haus selbst angetroffen, geht das große Rätselraten los: Hat der Komet die Trennung verschiedener potenzieller Realitäten, die in der Quantenmechanik nebeneinander existieren, ohne sich je zu überschneiden, aufgelöst? Ist die Welt auf einmal mit unzähligen Doppelgängern bevölkert, die für sich beanspruchen, das „Original“ zu sein? Oder hat ihnen Beth (Elizabeth Gracen) einfach nur etwas von ihren Drogen ins Essen gemischt?
In nur wenigen Tagen drehte Spielfilm-Regiedebütant James Ward Byrkit seinen Film und entwickelte seine Geschichte dabei weitestgehend durch Improvisation. Bis auf wenige Szenen auf der dunklen Straße vor dem Haus spielt der ganze Film in dessen zunehmend enger werdenden Innenräumen. Das Miteinander der Darsteller, eingefangen von einer ständig in Bewegung befindlichen Handkamera und geordnet durch den Schnitt, fühlt sich dabei authentisch und intim an, was auch der Schlüssel zum Erfolg ist. COHERENCE spielt mit den Mechanismen des Paranoia-Kinos und hetzt die Freunde, die nicht mehr wissen, ob sie dem anderen noch trauen können, gegeneinander auf. Doch ihre Aggressivität ist ja nur ein reflexhaftes Schutzverhalten: Die Verdächtigung des jeweils anderen lenkt nämlich vor allem von der viel beunruhigenderen Frage ab, ob man denn selbst noch mit sich identisch ist. Die Verwirrungen des Plots, das kreative Spiel mit Paradoxien, verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen, die COHERENCE den Charakter eines zu lösenden Puzzles verleihen, sichern die Aufmerksamkeit des Zuschauers, dessen Fokus von der Regie aber immer wieder sehr geschickt auf die psychologische Ebene gelenkt wird. Je länger der Film läuft, umso klarer kristallisiert sich Em nicht nur als strukturelles, sondern auch als dramaturgisches Zentrum und COHERENCE mithin weniger als Genrefilm denn als Psychogramm heraus, gewissermaßen als Anamnese einer vollkommen orientierungslosen Person.
COHERENCE, eine mit geringen Mitteln, aber viel Enthusiasmus und spürbarem Erzähltalent realisierte Indieproduktion, erregte einiges Aufsehen auf Festivals und forderte aufgrund seines Quantenmechanik-Gimmicks sofort Vergleiche mit Shane Carruths Zeitreise-Cult-Favorite PRIMER heraus, der seine fantastischen Ereignisse ebenfalls in nüchtern-sachliche Bilder gekleidet hatte. Auch CUBE bietet sich mit seinem übersichtlichen Ensemble-Cast und der bildgewordenen philosophischen Prämisse auf den ersten Blick als Referenz an. Was COHERENCE beiden Filmen aber weit voraus hat, ist die menschliche Wärme: Der Kometenplot und das zentrale Puzzle liefern Byrkit nur den interessanten äußeren Rahmen, im Kern geht es in seinem Film um die schockierende Erkenntnis, dass die kleinen Zufälle des Lebens ganz handfeste, entscheidende und oft folgenschwere Fakten schaffen, um den Zusammenbruch eines einzelnen Individuums genau über dieser Erkenntnis und darum, wie sich ein solcher Zusammenbruch für Außenstehende völlig unsichtbar vollziehen kann. COHERENCE ist ungemein vielschichtig, seine Geschichte voller überraschender Wendungen und Details, die man wahrscheinlich erst bei Zweit- oder Drittsichtung bemerkt. Was ihm für mich zudem einen Sonderbonus einbringt, ist die Besetzung: Nicht nur gelingt es allen Darstellern in der Kürze der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit, ihren Figuren ein identifizierbares Gesicht zu verleihen, sie heben sich dabei auch wohltuend von den allgegenwärtigen Teenies ab, die mittlerweile den Genrefilm vollkommen annektiert und dabei zum Kinderkram gemacht haben. Es ist ein abgegriffenes Schlusswort, aber es trifft nichtsdestotrotz zu: COHERENCE ist ein erwachsener Film.
Bildstörung, die sich in den vergangenen Jahren mit erlesener Filmauswahl und liebevoller Umsetzung als eines der wichtigsten deutschen Labels für den außergewöhnlichen Film etabliert haben, präsentieren COHERENCE sowohl auf DVD wie auch auf Blu-ray in einer „normalen“ und einer Special Edition, die außerdem die Soundtrack-CD beinhaltet. Das Bonusmaterial ist – der Aktualität des Films geschuldet – weniger opulent als bei älteren Filmen: Es gibt einen Audiokommentar, den Regisseur James Ward Byrkit mit seinen Darstellern Emily Foxler und Alex Manugian (der auch die Story mit entwickelte) bestreitet, sowie Interviews und Featurettes. Das Booklet enthält nicht den sonst üblichen Essay, sondern die Drehanweisungen, die die Schauspieler statt eines Drehbuchs erhielten. Bild- und Tonqualität der zur Besprechung vorliegenden Blu-ray-Disc lieferten keinerlei Grund zur Beanstandung. Für viele ist eine neue Bildstörung-Veröffentlichung eh ein Pflichtkauf, allen anderen Freunden anspruchsvollen Genrekinos sollte die Qualität des Gebotenen Anlass genug sein, die Arbeit des Labels zu unterstützen.
COHERENCE erscheint am 27.03.2015.
USA 2013, Regie: James Ward Byrkit
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