Flucht nach Berlin
Von Jamal Tuschick // 11. Februar 2015 // Tagged: Deutsches Kino, featured // 1 Kommentar
Ideale Fehlbesetzung
1960 drehte Will Tremper „Flucht nach Berlin“
Narziss Raymond Sokatscheff als Bauer Hermann Güden. Narziss Sokatscheff, was für ein Name.
Es war die Rolle seines Lebens. 1960 spielte Narziss Sokatscheff den anhaltischen Bauern Hermann Güden mit dem Flair eines Weltmannes. Sokatscheff hatte das Format und die Statur eines 00-Agenten im diplomatischen Dienst. Er sah aus wie der geborene Verächter von Hausmannskost. – Wie einer, der seine Epoche in die Schranken weisen und nicht bloß die Beine in die Hand nehmen kann. – Wie einer, den seine auf internationalem Parkett polierten Manieren nie im Stich lassen. Das machte ihn zur idealen Fehlbesetzung in Will Trempers Regiedebüt „Flucht nach Berlin“.
Tremper war selbst ein Mann hoher Dosierungen, er amüsierte sich königlich im kalten Krieg. Vor allem besaß er einen Instinkt für Storys. Er lieferte das Drehbuch zu den „Halbstarken“ (1956 mit Horst Buchholz und Karin Baal). Tremper konnte alles im Spektrum von Journalismus bis Reklame. Er hatte auch mit „Flucht nach Berlin“ die Nase vorn.
Ein Jahr vor der Mauer ließ eine mitteldeutsche Massenflucht das neue Deutschland zur Ader. Die SED bekniete das Volk, dass es den Sozialismus einsehen möge – so geht der Film los. Eine Agitationsbrigade stürmt ein Dorf im Widerstand gegen die Zwangskollektivierung. Keine Sau will in die LPG, aber Güden weiß wohl, was ein verlorener Posten ist. Er war nach sechs Jahren Wehrmacht fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft, nun wirtschaftet er mit Frau und Kind für die Butter aufs Brot. Wie gesagt, das glaubt man Sokatscheff keinen Augenblick, man nimmt diesem Narziss den Bauern nicht ab. Alle anderen sehen aus wie gemalt: das Dorf als Fundgrube des Eigentümlichen. Tremper leiht sich was vom sozialistischen Realismus, es gibt astreine DEFA-Szenen.
Güdens Gegenspieler ist der SED-Klassensprecher Claus Baade. Christian Doermer liefert ihn ab als Mischung aus Hasardeur und Überzeugungstäter. Doermer spielt so großartig wie Sokatscheff. Baade ist sich weniger der Sache des Sozialismus sicher als vielmehr seiner selbst. Der Leute Schwächen spannen die Winkel oder lassen sie zucken. Baade zieht das Register der Manipulation, doch kann man einem Güden keinen Bären aufbinden. Der führt sein Dorf hinters Licht, indem er sich geschlagen zeigt, reif für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Das Fiasko steht den Bauern auf der Stirn. Wer seinen Hof verliert, ist kaum Mensch mehr und für solche existiert kein Anderswo. Baade treibt sie noch durch die Gasse ihrer halsstarrigen Rückgratlosigkeit, da ist Güdens Frau schon mit dem Jungen auf der Landstraße. Güden besteht auf Aussprache unter vier Augen, er überwältigt Baade und macht sich aus dem Staub. Er überredet die Schweizer Psychologin (und Journalistin) Doris Lange ihn in ihrem Cabrio an die Grenze zu fahren; bei Potsdam will Güden über den See. Susanne Korda spielt die kluge und handfeste Schönheit in einem automobilen Traum als Lichtgestalt des freien Westens. Der kalte Krieger Tremper macht keine Gefangenen, er lässt am Osten kein gutes Haar. Doris missachtet ein Vopo-Gebot und schon ist sie mit von der Fluchtpartie. In der Zwischenzeit wurde Baade von seinen Funktionen entbunden und mit dem Verdacht der Fluchthilfe überzogen. Baade will sich vor Ulbricht persönlich rechtfertigen, er reist als Hobo nach Berlin. Unterwegs geschieht allerhand, bald entwaffnet Baade einen Fähnrich und gewinnt ihn zum Freund in gemeinsamer Not. Ein Plakat kommt ins Bild: „Herr Strauß (damals Verteidigungsminister) der baut Raketenbasen, wir werden ihm den Hobel blasen.“
Bemerkenswert finde ich Oberleutnant Steiner in seinen Reiterhosen als Prototyp des preußischen Militär. Auch Medewitz, der Schwielowsee und Caputh spielen mit. Ein Binnenschiffer bringt beinah einen Fahrgast ums Leben. Andererseits zeigt er sich hilfsbereit, da doch klar ist, was Doris und Hermann umtreibt. In Feuchtgebieten der Havel vollzieht sich der Showdown. Ich komme nur rasch noch auf den NVA-Hund, der in treuer Pflichterfüllung einen Flüchtling bis ans kapitalistische Ufer verfolgt. Da wird das Tier als „Kommunistenhund“ erkannt und zurück gejagt.
BR Deutschland 1960/1961, Regie/Drehbuch/Produktion: Will Tremper
Ein Kommentar zu "Flucht nach Berlin"
Trackbacks für diesen Artikel