Das vorläufige Leben des Grafen Kiedorf
Von Jamal Tuschick // 16. Januar 2015 // Tagged: Deutsches Kino, Dokumentation, featured // Keine Kommentare
Die große Sprecharie
Generaloberst Heinz Guderian riet von einer militärischen Laufbahn ab, da war Manfred Kiedorf acht Jahre alt. Kiedorf legte sich trotzdem eine Armee zu, die er nach der Guderian-Devise „Führung von vorne“ gegen Truppen seines Freundes Gerhard Bätz ins Feld führte. Diese beiden Vielseitigen verhalfen dem Rokoko zu einer Renaissance en miniature. Die Kleinkünstler schufen Großreiche. Sie heißen Pelarien und Dyonien, man findet sie auf der „gepriesenen Insel“. Das ist eine Landmasse im Meer fantastischer Wortschöpfungen. Ein Fluss trennt die Territorien absolutistischer Macht- und Prachtentfaltung. Pelarien liegt im Pezident und Dyonien streckt sich im Jonadent aus. Seit Anbruch der Fünfzigerjahre bauten und bastelten die Miniaturisten eine Welt zusammen, die dem Realitätsprinzip einigermaßen trotzt. Sie überwanden sogar die Grenzen des Kalten Krieges, 1986 ging Bätz in den Westen. Doch das Epochenspiel endet jetzt erst mit dem Tod von Manfred Kiedorf. Er wurde 1936 in Berlin geboren, er starb da. 1992 porträtierte ihn Regisseur Heinz Brinkmann im Mittelstück seiner „Trilogie der ungebrochenen Herzen”. „Das vorläufige Leben des Grafen Kiedorf“ zeigt einen Meister der großen Sprecharie.
Kiedorf schwebte auf der Vorstellung, die Welt sei zu seinem Plaisir erschaffen worden. Er kollidierte mit den Kanten seiner Gesellschaft und geriet auch wegen Unterhaltsschulden in Gefangenschaft. „Das vorläufige Leben des Grafen Kiedorf“ gewährt Ansichten eines Mannes, den Fantasie fest und beweglich zugleich macht: „Prunken ist erquicklich. Anwandlungen nach Fragen des Sinns sind sofort zu verdrängen.” Kiedorf erfand das Signet der Volksbühne, als Grafiker gestaltete er kilometerlange Transparentbahnen. Er illustrierte und dichtete. Im Film dirigiert er eine Konzertaufnahme, die Sängerin erreicht den Kilimandscharo ihrer Kunst, Kiedorf erklärt dazu: „So zickig, wie die klingt, wäre ich auch gern mal.“ Er rühmt die Grenzen seines künstlerischen Vermögens, man darf nicht zu begabt und sowieso nicht unlimitiert sein. Er schickt die Ehefrau, dass sie ein Glas für den Regisseur herbeischafft, von ihrer Erbschaft ist ihm immerhin noch eine Kapitänsmütze geblieben. Er spielt mit Fürsten, dem Gärtner und diversen Hofdamen, denen er selbstverständlich als König begegnet. Warum sollte man es auch darunter machen. Es versteht sich, dass „Gullivers Reisen“ zu Kiedorfs Glück beitragen. Verrennt er sich, so dass die Pointe ausbleibt, hat der Witz sich selbst nicht begriffen. Kiedorf erklärt jeden Wein zum Grand Cru, wo er ist, ist oben. Und wenn er unten ist, ist unten oben. In den Sechzigern beteiligte sich Kiedorf an der Ritter-Runkel-Saga, die mit dem „Mosaik“ verbreitet wurde und Lebensläufe im Verbreitungsgebiet beeinflusste. Im Zentrum der Dokumentation eines Bohemiens steht das „Pieper“, es gibt die Kneipe noch. Inzwischen heißt sie nach der Straße ihrer Anschrift „Knaack 94“. Im „Pieper“ verbot Kiedorf jedem dem Mund, der an seinem Tisch auch was sagen wollte. Er feierte Tresentriumphe mit Soleiern und becircte jeden Rockzipfel. Am schönsten aber beschimpfte er den Wirt Gerd Pieper u.a. als „furchtbaren Plattenbauarchitekten“. Der breit geschätzte Architekt zuckte vor Kiedorfs Schlagfertigkeit zurück, er wehrte sich kaum. Gegenwehr scheint keinen Zweck gehabt zu haben bei diesem Grafen von eigenen Gnaden.
Deutschland 1992, Dokumentarfilm, Regie Heinz Brinkmann