reden über schreiben über film(e): #11 armond white
Von Oliver Nöding // 23. August 2014 // // 4 Kommentare
Nur wenige Filmkrtiker werden so kontrovers diskutiert wie der Afroamerikaner Armond White. 1953 in Detroit als jüngstes von sieben Geschwistern geboren, inspiriert ihn die Lektüre der Rezensionen von Pauline Kael dazu, Filmkritiker zu werden. Nach einem Masterabschluss an der Columbia University in New York beginnt er seine lange Karriere, die ihn von The City Sun zur New York Press führt. Neben Film interessieren ihn Popkultur im Allgemeinen und Popmusik im Speziellen. Er veröffentlicht zu diesem Themenkomplex die Bücher „The Resistance: Ten Years of Pop Culture That Shook the World“, „Rebel for the Hell of It: The Life of Tupac Shakur“ und „Keep Moving: The Michael Jackson Chronicles“. Armond Whites Kritiken sind streng, oft polemisch und immer polarisierend. Die mit dem Internet aufgekommene Amateur-Filmkritik und die Nerdkultur sind genauso oft Ziel seiner Kritik wie Kollegen, die sich zu reinen Marketinginstrumenten der Studios degradieren lassen und sich mit dem Status quo längst abgefunden haben, anstatt künstlerisches Niveau einzufordern. Und natürlich Filme: Der herrschende Konsens interessiert ihn nur wenig und somit verreißt er einhellig gefeierte Filme wie THE DARK KNIGHT oder GRAVITY mit unnachgiebiger Schärfe, preist demgegenüber die cineastischen Qualitäten einhellig verschmähter Werke von Adam Sandler, Eddie Murphy, Jason Statham oder Michael Bay. Die Rolle als einsamer Kämpfer hat Armond White viele Gegner eingebracht: Wer seinen Namen googelt, findet zahlreiche Texte, in denen er als „Contrarian“ – also als jemand, der aus purem Oppositionswillen eine andere Meinung als die Mehrheit vertritt – oder einfach nur als Spinner beschimpft wird, solche, die ihn als Kuriosität behandeln, aber auch ehrliche Respektsbekundungen. Ein nicht mehr existentes Blog namens Armond Dangerous analysierte bis 2007 akribisch jede Rezension von ihm und hielt ihm penibel alle faktischen, stilistischen und argumentativen Ungenauigkeiten vor. (Sein Wikipedia-Eintrag bietet tatsächlich einen guten Überblick über den gesamten kritischen Diskurs zu White.) Seine Jahres-Endliste, die „Better-than-List“, in der White überhypten Filmen seiner Meinung nach bessere, vom „Mainstream“ übersehene Alternativen gegenüberstellt, ist immer wieder Anlass für rege Online-Diskussionen, und in den Kommentarspalten unter seinen Rezensionen findet sich eine verhärtete Front von White-Hassern und -Verteidigern. Wie man auch zu Armond White stehen mag, eines kann man ihm ganz sicher nicht vorwerfen: Seinem Medium gleichgültig, abgeklärt und leidenschafts- und anspruchslos gegenüberzustehen. Sein Kollege Owen Gleiberman verglich ihn einst mit Lester Bangs und Pauline Kael und schrieb über ihn: „He [Armond White; Anm. v. O. Nöding] parades his unruly, belligerent perceptions like hardcore psychological rock & roll.“
Mr. White, als erstes möchten wir Ihnen sagen, dass wir stolz darauf sind, Sie für unsere Interviewreihe befragen zu dürfen. Sie sind erst der zweite US-amerikanische Filmkritiker, den wir befragen, und gleichzeitig der erste, der seine Karriere lange vor dem Internet begann. Uns würde interessieren, wie Sie zur Filmkritik kamen, was waren Ihre Ziele, Wünsche, vielleicht Träume? Was hofften Sie beizutragen, was Ihrer Meinung nach fehlte?
Damals gab es fantastische Filmkritiker in den US-amerikanischen Mainstream-Medien und diese waren auch meine Inspirationsquelle: [Pauline] Kael, [Andrew] Sarris, John Simon, Stanley Kauffman, James Agee, Arthur Knight, Judith Crist, Hollis Alpert, Bosley Crowther, Vincent Canby, Manny Farber; unter den Akademikern Raymond Durgnant, Andre Bazin, Leo Baudry, Richard Griffiths and Kevin Brownlow. Sie definierten die Möglichkeiten der Filmkritik. Ich kann ein Fan sein, aber ich bin kein Follower. Ich musste meine eigene Perspektive entwickeln – und diese wollte ich der ihren hinzufügen, als führte ich mit ihnen einen Dialog oder tauschte mit ihnen Gedanken aus – eine Form der Dankbarkeit. Indem ich ihre Texte las, lernte ich Filme so zu sehen wie sie, aber es war nötig, Filme – und mit ihnen die Kultur und das Leben – so zu verstehen, wie ich sie erlebte. Und das war es, was fehlte.
Können Sie zusammenfassen, was Film Ihnen bedeutet? Gab es ein filmisches Erweckungserlebnis, eine Initialzündung, die Ihre Sichtweise auf Film und das Leben grundsätzlich veränderte? Was suchen Sie in Filmen? Und wie gehen Sie sie an, wenn Sie darüber schreiben?
Filme bedeuteten mir immer genauso viel wie Popmusik. Ich wuchs in Motown auf [= Detroit, Heimat des gleichnamigen Plattenlabels, vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren Ursprung zahlreicher Soul- und RnB-Klassiker; Anm. O. Nöding] und erlebte die musikalischen Errungenschaften jener Zeit aus nächster Nähe. Musik und Film gaben mir Einsicht in die Welt und die Menschheit/Menschlichkeit (Gedanken, Ziele, Streben etc.). Film ist großartige Unterhaltung – eine einzige Freude, genau wie Popmusik –, sodass ich das eine wie das andere gleichermaßen schätzen lernte. Ich höre mir immer noch lieber großartigen Pop an, anstatt einen schlechten Film zu schauen. Aber das visuelle Vergnügen von Film verbindet die Stärken aller anderen Künste perfekt. Es gibt zahlreiche Meilensteine, die mir das bewiesen, von INTOLERANZ (Intolerance, D. W. Griffith, USA 1916) bis hin zu JOHANNA VON ORLÈANS (La passion de Jeanne D’Arc, Carl Theodor Dreyer, Frankreich 1928), aber diese Klassiker gingen meinem eigenen Bewusstsein voraus. Zu meinen Lebzeiten waren die Nouvelle Vague und die Filme Robert Altmans – vor allem CALIFORNIA SPLIT (Robert Altman, USA 1974) – prägend. Diese Innovation und Schönheit, die Wahrheit, nach der ich immer gesucht hatte. Wenn ich sie finde – oder eben nicht –, besteht die Herausforderung darin, sie zu verstehen, ihr Sinn zu verleihen. Sie in einen Kontext einzuordnen, die Kontinuität kultureller, politischer und persönlicher Geschichte herzustellen.
Als jemand, der Filme professionell schaut, wie gelingt es ihnen, den Kritiker „abzuschalten“, wenn Sie Filme zum Privatvergnügen schauen? Oder schalten Sie ihn gar nicht ab?
Es gibt keinen Ausschalter, es sei denn, man hört auf zu atmen, zu sehen, zu hören. Alles, was man tut, fließt in die Wertschätzung der Kunst ein. Es ist ein unaufhörlicher Prozess.
Wissen Sie, wann sie zum „berüchtigten“ Kritiker wurden? War das eine natürliche Entwicklung, dass mehr und mehr Leser von Ihren Texten irritiert waren oder sich sogar angegriffen fühlten? Oder gab es eine bewusste Entscheidung, eine Richtungsänderung? Gab es einen Moment in Ihrer Karriere, an dem Sie merkten, dass Sie die Gabe hatten, eine Reaktion aus Ihren Lesern herauszukitzeln?
Gott sei Dank begann ich mit dem Schreiben bevor das Internet die Hirne einer neuen Generation verzerrte und die Gesellschaft zum Schlechteren veränderte. Ich begann mit der Idee, dass Kritik herausfordernd sein sollte, und wusste es immer zu schätzen, dass Menschen mich auch so verstanden (jedenfalls vor dem Internet). Es ist das Internetzeitalter, das die Meinungen der Menschen darüber, was Kritik leisten sollte, veränderte und die Idee eines „berüchtigten“ Kritikers überhaupt ermöglichte. Vorher mochten die Menschen neue Perspektiven und Ideen. Danach begann der Gleich- und Stechschritt. Die Filmkritik verfiel mehr und mehr und die plötzlich vorherrschende, adoleszente Mob-Mentalität machte vielen Angst, eine eigene, unpopuläre Meinung zu vertreten, brachte sie stattdessen dazu, sich mit diesem Mob gemein zu machen. Dass ich für Schwarze, alternative Medien schrieb, half mir, eine gesunde Unabhängigkeit zu wahren. Diese Publikationen – The City Sun und die New York Press – richteten sich an Leser, die den Status quo hinterfragten und in Opposition zum Mainstream standen. Heute erziehen Internet und Fernsehen die Menschen zu gleich oder gar nicht denkenden Konsumenten. Dieser intellektuelle Niedergang erzeugt Leser, die sich von Ideen leicht provozieren lassen.
In ihren Kritiken betonen Sie häufig die Bedeutung von Pauline Kael – für Ihren eigenen Werdegang als Kritiker wie für die Filmkritik insgesamt. Sie war nicht nur für ihren einsichtsvollen Kritiken bekannt, sondern auch für ihre Bereitschaft, Regisseure und Schauspieler anzugreifen, sie an hohen ethischen Standards zu messen und sie dafür zu kritisieren, wenn sie diese nicht einhielten. Sie scheinen diese Tradition fortzusetzen. Sie sind einer der ganz wenigen Kritiker, die Film nicht nur als kommerzielles Produkt kritisieren, sondern ihn als Beitrag zur Gesamtkultur verstehen. Kämpfen Sie auf verlorenem Posten oder gefällt Ihnen die Position des Außenseiters oder sogar Aussätzigen?
Thoreau sagte, jeder Mensch, der gegenüber seinem Nächsten im Recht ist, bildet eine Mehrheit des Einzelnen, und das ist auch meine Überzeugung. Faktisch gesehen ist der Mainstream einfach nur der Mob, Doppelgänger, die den gleichen sozioökonomischen und politischen Hintergrund haben. Sie denken gleich und lassen jede Originalität vermissen, aber sie sind nicht die Welt: Sie bilden lediglich die mediale Mehrheit. Sie genießen kein Primat auf das Denken oder das Fühlen. Viele brillante Menschen, die ich auf der Filmschule oder anderswo kennen gelernt habe, haben es nie als Filmkritiker geschafft, von daher bin ich nicht im Mindesten von anderen Kritikern verunsichert. Und wie für Pauline Kael ist die Frage nach dem Außenseiter oder dem Aussätzigen keine, die mich beschäftigt.
Ihre Kritiken sind oft harsch und persönlich. Sie behandeln Filme, die Ihnen nicht gefallen, so als ob Sie sich persönlich von Ihnen angegriffen fühlen. Und Sie konfrontieren jeden Film gleich, egal ob es sich um High Cinema oder einen Popcornfilm handelt. Bei Ihnen liest man niemals eine Phrase wie „für das, was es ist, ist es gut“. Fehlt genau das Ihrer Meinung nach in der heutigen Filmkritik: Der Glaube, dass jeder Film etwas Positives zur Gesellschaft und zur Kultur beitragen kann, anstatt nur eine bestimmte Zielgruppe zu bedienen und sie für 120 Minuten auf niedrigstem Niveau zu unterhalten?
Da könnt ihr sicher sein. Jeder Film muss neben den besten, die je gedreht wurden, bestehen. Wenn wir das nicht so halten, sind wir alle die Gelackmeierten. Meine Kritik stellt niemals eine persönliche Verunglimpfung dar, aber ich nehme Kunst und Filmkritik ernst. Ersetzt „harsch“ durch „ehrlich“, denn das sollte jeder Kritiker sein.
Sie sind berüchtigt für etwas, was Ihre Kritiker als „Contrarianism“ bezeichnen. Sie beschuldigen Sie dafür, absichtlich dem Konsens zu widersprechen. Soweit ich weiß, wurden Sie bei „Rotten Tomatoes“ [eine Filmkritik-Aggregat-Webseite, bei der versammelte Kritikerstimmen zu einer Gesamtpunktzahl zusammengezählt werden; Anm. v. O. Nöding] ausgeschlossen, weil sich die Leser darüber beschwerten, dass Sie die Punktzahlen von ihrer Meinung nach perfekten Filmen ruinierten. Und Ihr Kollege, der verstorbene Roger Ebert, ging sogar so weit, Sie als „Troll“ zu bezeichnen. Aber anstatt sich zu erklären oder zu rechtfertigen, vergrößerten Sie die bestehende Kluft mit Ihrer „Better-than“-Jahres-Endliste. Sie haben auch Spaß daran, Ihrer Gegner herauszufordern und das Schwarze Schaf zu spielen, oder?
Filmkritiker zu sein, macht natürlich auch Spaß – genauso we es harte Arbeit bedeutet. „Rotten Tomatoes“ ist juvenile Idiotie, ein Weg, echte Filmkritik bedeutungslos zu machen. Wenn mich Webseiten und Cliquen „aussondern“, zeigt das nur, wie schwach und feige die Kultur im diskursiven Umgang miteinander geworden ist. Wenn es so etwas wie „Contrarianism“ überhaupt gibt, dann definiert bitte auch die Konformität und Gruppendenke, zu der es einen Gegenpol bildet.
Irgendwo habe ich von jemandem gelesen, der das Vergnügen hatte, sie persönlich zu treffen, und überrascht darüber war, Sie keineswegs als eine unleidliche und mürrische, sondern vielmehr eine angenehme und gesprächige Person kennenzulernen. Ist Ihre Autorenstimme nur ein Spiel, um Ihre – bedeutende – Botschaft mitzuteilen, um den Diskurs und vielleicht sogar Widerspruch anzuregen, die Diskussion über Film als Ganzes wiederzubeleben?
Ein Kritiker braucht eine starke Stimme. Ein Gentleman hat Manieren.
Es gab in den vergangenen Jahren einige Kontroversen um Sie. So wurden Sie aus dem New York Film Critic Circle ausgeschlossen, nachdem Sie angeblich den Preisträger Steve McQueen [Regisseur u. a. von 12 YEARS A SLAVE; Anm. v. O. Nöding] mit Schmährufen bedachten. Möchten Sie dazu etwas sagen?
Ich habe McQueen niemals mit Schmährufen bedacht. Meine Kritik seines Films war eindeutig genug – so eindeutig, dass sich die feigen Mitglieder des Circle dazu berufen fühlten, Lügen über mich in die Welt zu setzen und sich so selbst zu blamieren.
Sie kritisieren nicht nur Filme, sondern auch den gegenwärtigen Stand des Filmkritik. Es ist offensichtlich, dass Filmkritik zum Marketingwerkzeug verkommen ist. Viele Filmkritiker sind kaum mehr als kleine Händler, die nicht nur das Wissen über Filmgeschichte, sondern jeden Idealismus, jede Einsicht in die Bedeutung von Kunst und Kultur vermissen lassen. Diese Entwicklung scheint mit der Strategie der Studios einherzugehen, die immer mehr sogenannter Franchises auf den Markt werfen; das passt natürlich in den übergeordneten, größeren Kontext von Postindustrialismus und Neoliberalismus. Wo wird das enden? Und vor allem: Wird es enden?
Ist es nicht augenfällig, dass sie Medienindustrie ebenfalls Kritiker-Franchises produziert? Werbezitate auf Plakaten und DVD-Hüllen und Aggregat-Webseiten verrichten die Arbeit von Werbeabteilungen. Und das Internet ist größtenteils ein Wildwuchs von Amateuren – ohne die Liebe und die Sorgfalt, die das Wort „Amateur“ eigentlich implizieren sollte.
Als Blogger, die sich um eine alternative Perspektive auf solche Filme bemühen, die unserer Meinung nach missverstanden oder vernachlässigt werden, weissen wir nicht immer, wie wir Ihre Angriffe gegen diese Amateur-Filmkritik verstehen sollen. Einerseits haben Sie Recht: Es gibt online viel zu viele Menschen, die nichts außer Ihrer eigenen, ungebildeten Meinung beizusteuern haben. Andererseits glauben wir, dass das Blogging eine Chance für eine unabhängige Filmkritik ist, für einen Enthusiasmus und Idealismus, der sonst schmerzlich vermisst wird. Sagen Sie uns, dass Sie uns wenigstens ein bisschen zustimmen.
Ich antworte euch respektvoll, nicht wahr? Ich glaube an das First Amendment der US-Verfassung, das die Freiheit der Rede gewährleistet. Aber ich verzweifle an Internet-Usern, die Filmkritik oder Filmwissenschaft nicht ernst nehmen und sich gleichzeitig darüber aufregen, wenn man diese Tatsache offenlegt. Können mich Blogger auf ernsthafte Art und Weise zum Nachdenken anregen? Persönliche Angriffe gegen mich sind keine respektvolle Antwort auf die Gedanken, die ich zu vermitteln versuche. Sie stellen diese User lediglich als der Diskussion unwürdig bloß.
Sie scheinen der einzige lautstarke schwarze Kritiker zu sein – das ist jedenfalls der Eindruck, den man als deutscher Leser aus der Ferne gewinnt – und sie stehen afroamerikanischen Regisseuren besondern kritisch gegenüber: die bereits genannten Steve McQueen, Tyler Perry und Spike Lee sind alle in Ihr Fadenkreuz geraten. Können Sie zusammenfassen, was sie am gegenwärtigen schwarzen Kino vermissen?
Als ich noch regelmäßig über Hip-Hop schrieb, war eine der bekanntesten Redewendungen des Genres „I’m not new to this/I’m true to this“. Ich schreibe über viele herausragende schwarze Filmemacher und gute bis großartige Filme über das „black life“. DIE FARBE LILA (The Color Purple, Steven Spielberg, USA 1985), MENSCHENKIND (Beloved, Jonathan Demme, USA 1998), AMISTAD (Steven Spielberg, USA 1997), MR. 3000 (Charles Stone III, USA 2004), NEXT DAY AIR (Benny Boom, USA 2009), SKINNY (The Skinny, Patrik-Ian Polk, USA 2012), TAKERS – THE FINAL JOB (Takers, John Luessenhop, USA 2010), BABY BOY (John Singleton, USA 2001) und viele, viele andere. Die meisten Kritiker scheren sich nicht darum. Sie schreiben nur über die großbudgetierten, vielgehypten „schwarzen“ Filme.
Der Filmhistoriker Donald Bogle hat wichtige Arbeit geleistet, die Diskussion über afroamerikanische Filmgeschichte zu eröffnen. Aber es bleibt noch viel Boden zu erschließen. Wie viel ist hinsichtlich der Anerkennung der Bedeutung des afroamerikanischen Kinos für den US-amerikanischen Film insgesamt passiert?
Schreibt Bogle noch? Wenig hat sich seit jener Zeit verändert, als Bogle sein erstes Buch veröffentlichte. Neu ist nur der von Harvey Weinstein so bezeichnete „Obama Effekt“, der nur ein Weg war, zu behaupten, „race“ spiele keine Rolle mehr, so lange die liberale Scheinheiligkeit bewahrt bleibe.
Ist es für weiße Kritiker überhaupt möglich, das afroamerikanische Kino zu diskutieren, ohne in die Fallgruben von Rassismus zu fallen, oder aber herablassend oder imperialistisch zu erscheinen? Ist es ein Diskurs, der von afroamerikanischen Kritikern und Regsseuren angeführt werden muss?
Kritiker – egal ob weiß oder nicht – sollten immer als erstes versuchen, jene Fallgruben des Rassismus und der Herablassung zu vermeiden. Die meisten interessiert das nicht, was man daran sieht, wie sie die „Obama Effekt“-Filme feiern.
Als ich [Marco Siedelmann, Anm. v. O. Nöding] Spike Lee einmal fragte, ob er sich als Vertreter des New Black Cinema betrachte, antwortete er nur: „Von was?“ Sein Blick auf den gegenwärtigen Stand des afroamerikanischen Kinos ist äußerst pessimistisch. Stimmen Sie mit ihm darin überein, dass es keine echten Talente mehr gibt, seitdem die Karrieren von Townsend, Matty Rich und anderer endeten oder sich in neue Richtungen entwickelten?
Ich hoffe, dass Deutschland und der Rest Europas MENSCHENKIND, NEXT DAY AIR, MR. 3000, die Filme der Serie NOAH’S ARC und einige weitere gesehen haben. Schwarze Filmemacher sind seit Tonwnsend und Matty Rich ein ganzes Stück weitergekommen. Fangt mit DIE FARBE LILA, MENSCHENKIND und AMISTAD an.
Das New Black Cinema war eine diskursive und ideologische Bewegung. In wenigen Jahren wurde eine beeindruckende Zahl interessanter Filme gedreht. Dass diese Bewegung endete, ist ein bitterer Verlust gewesen. Welche Rolle spielten die Rezeption von Publikum und Kritikern für ihr Ende?
Über die Jahre hat DIE FARBE LILA ein enormes, wohlwollendes Publikum gefunden. Nur rassistische Kritiker weigern sich, das anzuerkennen. Ich wiederhole mich: Fangt mit DIE FARBE LILA AN, dann AMISTAD, dann MENSCHENKIND.
Neues Thema: Durch Filesharing sind Teile der Filgeschichte verfügbar gemacht worden, die in den letzten Jahrzehnten völlig vergessen waren. Die Filme von Ousmane Sembene, Satyajit Ray, polnische, österreichische oder japanische Animationsfilme, die jugoslawische Schwarze Welle, die polnische Filmschul-Bewegung: Man kann auf Streamingportalen wie Youtube Filme sehen, mitsamt Untertitelung, von denen man bis vor einiger Zeit gar nicht wusste, dass sie existieren. Das wird ein immer wichtigerer Teil der Cinephilie. Dennoch gehen Magazine auf diesen Trend kaum ein – wenigstens in Deutschland. Was halten Sie von diesen Veränderungen in der Filmrezeption?
Es ist immer gut, wenn man obskure Filme sehen kann, aber die große Leinwand ist immer noch am besten. Alles andere ist nicht Kino, sondern Fernsehen.
Es gibt einen drastischen Wandel im Kino, wie wir es bisher kannten. Deutsche Cinephile erleben derzeit den Tod der 35-mm-Projektion und das Zeitalter der Digitalisierung. Viele Filmkopien werden entweder umgewandelt und infolgedessen zerstört, andere werden gänzlich verloren gehen. Viele deutsche Filmjournalisten erkennen darin einen Mangel an Respekt gegenüber der Filmkultur, besonders im Vergleich zu anderen Kunstformen, die hierzulande größere Wertschätzung erfahren. Was denken Sie über die gegenwärtige Entwicklung? Was ist der Unterschied zwischen echtem Filmmaterial und der Digitalkopie?
Schaut Filme wie auch immer es geht, aber sie auf der großen Leinwand zu sehen, ist immer vorzuziehen. Der Unterschied ist vergleichbar mit einem Gemälde in einem Museum und einer Reproduktion in einem Bildband.
Sie scheinen kein allzu großer Freund von Genrefilmen zu sein – Horror, Action, Science-Fiction – und sind generell nicht allzu wohlwollend gegenüber grafischer Gewaltdarstellung. Quentin Tarantino ist nur einer der Regisseure, die Sie für ihren Stil kritisieren. Andererseits preisen Sie Genrefilme wie THE TRANSPORTER 3 (Olivier Megaton, Frankreich 2008), TRANSFORMERS – DIE RACHE (TRANSFORMERS: REVENGE OF THE FALLEN, Michael Bay, USA 2009) oder RUNNING SCARED (Wayne Kramer, USA 2006), um ein paar zu nennen. Was braucht ein Genrefilm, um die Grenze zur Kunst zu überschreiten?
Das ist schon die Antwort: Er muss die Grenzen seines Genres überschreiten. Das ist es, was Brian De Palma in seinen Filmen einst machte, genauso wie Altman, Welles, Renoir, Antonioni, Dreyer, David Lean, Alfred Hitchcock und Luis Bunuel.
Was wäre besser für die Cinephilie: Wenn es plötzlich ein riesiges Interesse an afrikanischen Klassikern von Sembene oder Mambety gäbe, oder wenn ein Film wie TRANSFORMERS mit dem selben Respekt behandelt würde, den man sonst für Klassiker bereithält?
Was ist wichtiger: Mehr Aufmerksamkeit für Kunst oder eine Revision des Begriffes Mainstream“? Sembene und Mambety sehen sich der gleichen Vernachlässigung gegenüber wie Robert Altman, Julian Hernandez, Terence Davies, Chen Kaige und Zhang Yimou. Die gegenwärtige Filmkultur muss ihre Interessen zugunsten der Meister erweitern, nicht bloß zugunsten kurzlebiger Trends.
Ich [Oliver Nöding; Anm. v. mir] habe als erstes von Ihnen gelesen, als ich für eine private Brian-De-Palma-Werkschau recherchierte. Was Sie über seine Filme sagten, die Tatsache, dass sie ihn gegen den herrschenden Konsens verteidigten, sprach mir aus der Seele. Ich liebe seine Filme, weil sie so reich und elegant sind, gleichzeitig aber sehr komisch und verschroben. Können Sie sagen, was Sie an ihm so besonders finden?
Deine Zusammenfassung leistet das schon. Ich beglückwünsche dich zu deinem guten Geschmack. Wenn dir De Palma gefällt, dann sollte Julian Hernandez – ein weiterer erotischer Visionär – dir ebenfalls zusagen.
Ein weiterer Künstler, den sie gegen die überwältigende Mehrheit der Kritiker verteidigen, ist Adam Sandler. Wann immer ein neuer Film von ihm erscheint, stehen die Menschen förmlich Schlange, um ihn zu zerreißen. Für mich [Oliver Nöding; Anm. v. mir] waren KINDSKÖPFE (GROWN UPS, Dennis Dugan, USA 2008) und sein Sequel KINDSKÖPFE 2 (GROWN UPS 2, Dennis Dugan, USA 2013) zwei der schönsten und originellsten Komödien seit langem, voller Leben, Herz und Atmosphäre. Was mögen Sie an ihm und warum glauben Sie, dass er all diesen Hass und das Gespött auf sich zieht?
US-amerikanische Kritiker befinden sich in einer tragischen politischen und Identitätskrise. Das ist der Grund, aus dem Adam Sandler und Eddie Murphy gewohnheitsmäßig angegriffen und geringgeschätzt werden. Sie erinnern Filmzuschauer an ihrer eigene Menschlichkeit, und die meisten Filmkritiker wollen geradezu verzweifelt smart und elitär erscheinen. Aber Sandler und Murphy sind Komiker auf dem künstlerischen Gipfel. Sie behandeln die menschliche Erfahrung mit der persönlichen Ehrlichkeit und Würde der größten Filmkünstler, ohne dabei jemals ihren Witz zu verlieren. Kritiker, die sie zerreißen, verpassen etwas und halten sich selbst zum Narren.
Abschließend würde ich Sie bitten, unseren Lesern drei Sehempfehlungen zu geben: Welche vorzugsweise nicht-kanonischen amerikanischen Filme sollten sie sich anschauen und warum?
Um einen Eindruck spiritueller Geschichte zu erhalten, schaut euch Jonathan Demmes MENSCHENKIND an. Für pures Genre-Vergnügen schaut Prince’ SIGN O THE TIMES. Außerdem D. W. Griffiths INTOLERANZ, denn nichts ist besser.
Mr. White, danke, dass Sie sich für uns die Zeit genommen haben.
Und danke, Oliver und Marco, für euer Interesse.
Oliver Nöding & Marco Siedelmann
4 Kommentare zu "reden über schreiben über film(e): #11 armond white"
Great interview! Thanks to all involved!
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