reden über schreiben über film(e): #10 Sebastian Selig
Von Marco Siedelman // 8. August 2014 // Tagged: featured, Interview // 1 Kommentar
Zunächst ein paar Details zu deinem “Werdegang”. Wie lang spielt Film in deinem Leben schon eine Rolle? Und wann hast du angefangen, zusätzlich Filmkritiken bzw Sekundärliteratur allgemein zu lesen? Und was hat dich schließlich bewogen, selbst zu schreiben? Wo sind dann deine ersten Texte erschienen und wie ging es dann weiter?
Ich war mit sechs Jahren zum ersten Mal im Kino: eine spielfilmhafte Disney-Dokumentation über einen Vietnam-Veteranen, der in ein Indianerreservat zieht um mit Schwarzbären zu leben (THE BEARS AND I – Bernard McEveety, 1974). In einem Kino, das bezeichnender Weise „Museum Lichtspiele“ hieß und zumindest was den „Museum“-Teil angeht, heute sogar immer noch so heißt und existiert. Ich habe dann recht bald über das wunderbare Geschenk sonntäglicher Matinee-Vorstellungen (die dort „Jugendvorstellungen“ hießen) diverse ital. Sandalenfilme, Godzilla-Epen und mitunter auch allerlei Zeichentrick-Unsinn gesehen. Später dann Bud Spencer, Condorman und Bond. Die Söldnerfilme von Erwin C. Dietrich sowie natürlich Rambo und Walter Hill waren dann sehr prägend, ehe Videotheken den Fokus erneut wieder stark auf Italien lenkten. Fulci, Argento… Im Kino hat mich parallel vor allem De Palma beeindruckt. Später dann Woo, Milius, Mann und Friedkin. Ich bin weitestgehend ohne Fernsehen aufgewachsen und habe Kino von Anfang an wohl auch deshalb nochmals verstärkt als einen Ort ganz besonderer Wunder wahrgenommen. Das dort Erlebte in Form von delirierenden Storyboards oder später dann auch Texten weiterzuverarbeiten erfolgte förmlich unmittelbar schon ab dem ersten Erleben von Kino als Kind. Erste zarte Veröffentlichungs-Bande verwoben sich dann in der Pubertät zu solch ungebremst lebendigen Magazinen wie TNT (später: HOWL), die dann ja auch erste Festivals, wie das heute zurecht von Mythen umrankte HOWL – WEEKEND OF FEAR in Nürnberg und München aufblühen ließen sowie später zum SPLATTING IMAGE, welches natürlich auch eng mit meinen Jahren in Berlin und meiner Zeit im dortigen VIDEODROM verknüpft ist.
Du pflegst einen sehr emotionalen und persönlichen Schreibstil mit einer Neigung zu den ganz großen Liebeserklärungen an die jeweiligen Filme. Gibt es zu wenig Ekstatiker in der Filmkritik?
Einen Verriss zu schreiben, ist ja so ziemlich die einfachste Sache der Welt und füllt Dich beim Schreiben dann doch immer wieder nur mit schlechter Laune oder schlimmer noch: abgeklärter Distanz aus. Dem Kino selbst wird man damit nur selten gerecht. Wie auch, beschreibt man doch in den aller-meisten Fällen dann nur etwas, mit dem man nicht eins werden konnte. Etwas, das einen, aus welchen Gründen auch immer, auf Abstand hielt. Wenn ich schreibe, will ich die geballten Kräfte, die da von der Leinwand auf mich gewirkt haben, so direkt, ehrlich und ungefiltert wie nur irgendwie möglich wiedergeben. Will ich mich einzig von meiner Liebe zum Kino leiten lassen. Das Gegenteil von Liebe ist Sicherheit. Drum heißt es bei Schreiben alles zu scheuen, was einem ein Gefühl von falscher Sicherheit geben könnte. Sich nicht an Gesetze halten. Keine Erwartungen erfüllen wollen, sprich: nicht den Lesern nach dem Mund schreiben, sondern einfach und ehrlich beschreiben, wie man ins Taumeln kam. Beschenkt wurde. Alleine schon rein optisch ist ja Text eigentlich etwas verdammt Nüchternes. Ich hatte anfangs immer das Gefühl, einem Film, der mich sinnlich so viel weiter greifend überschüttet hat, hier deswegen gar nicht mit einem Text gerecht werden zu können. Das Kino selbst hat mir dann gezeigt, wie das vielleicht doch geht. Seine überwältigende Kraft entwickelt das Kino doch stets immer dann zu voller Blüte, wenn es sich von seinen Textvorlagen so weit wie möglich löst. Handelt, nicht „Handlung“ nacherzählt. Lebendig wird. Ich will mich deshalb beim über Filme Schreiben stets auch größtmöglich vom simplen Nacherzählen lösen und versuche stattdessen nach sprachlichen Bildern und Exzessen zu greifen, die dem Gefühlten Raum freisprengen. Dazu gehört auch, letztlich doch immer nur zu kurz greifende Vergleiche, beispielsweise mit anderen Filmen, eher zu vermeiden. Filme nicht in Schubladen quetschen, die nur quietschen können. Bereits schon Genrebezeichnungen sind in meinen Augen solche Schubladen. Oder am aller-schlimmsten: man versucht einen Film in einen Mülleimer zu stecken, auf dem „Trash“ oder auch „Kult“ draufsteht. Hilflose Versuche sind das, Kunst zum Belächeln freizugeben. Ihr einen Exotik-Stempel zu verpassen, damit sich auf dieser Basis dann eine falsche Distanz oder noch bedauernswerter, pubertäre Abgrenzungen breit machen kann. Abgrenzungen in die Richtung „Ich mag schlechte Filme“, guck mal, wie toll unangepasst und cool ich bin. Mit dieser Herangehensweise wird dann aber eben gerade kein Liebesfest mit dem Film deines Herzens gefeiert, sondern für diesen nur eine Nische zementiert. Filme dergestalt in den Keller zu sperren engt das Kino natürlich ein. Da werden Grenzen gezogen, für die beim besten Willen kein Anlass besteht. Man versperrt sich letztlich dem wirklich beglückenden Erleben von Kino, vermeidet keusch oder schlicht verklemmt, den ungehemmten Sex und die überwältigende Liebe mit der Leinwand. Meiner Erfahrung nach lohnt es sich deshalb tatsächlich, in der Begegnung mit dem Kino (Kunst generell) nach größtmöglicher Distanzlosigkeit zu streben.
Dein Blick scheint mir oft ein geradezu erotomanischer zu sein. Ist Kino ein erotischer Ort? Ist die Filmrezeption ein sexuell bestimmter Vorgang? Nicht selten könnte man unter Cinephilie eine Verlängerung ureigenster Fetische vermuten. Wie siehst du das?
Kino ist vorrangig immer erst einmal eine sinnliche Erfahrung. Jeder neue Film gleicht darin einer schönen oder sonstwie interessanten Frau, mit der man dann zum ersten (oder eben auch dritten, vierten, zwanzigsten) Mal Sex hat. Und genau so wie man selbstverständlich nie auf die Idee käme, sich anschließend über diesen Sex in der Öffentlichkeit negativ zu äußern, so gebührt es schon der Respekt vor dem Wunder der Liebe, über Sex bei dem es zu keinem Kontakt kam besser mal zu schweigen. Als cinephiler Mensch schmerzt es mich ungemein, Texte zu lesen, die sich in aufgesetzter Nüchternheit über einen Film erheben wollen, die sich gar billiger sarkastischer Mittel bedienen und das im Grunde doch nur tun, um ihr eigenes „Dieser Film hat mich auf Distanz gehalten, befremdet, mit dem konnte ich nichts anfangen“, als was scheinbar Normales bemüht sind darzustellen. Der Impuls genau dieser, in den ach so abgeklärten Nullerjahren immer selbstgerecht widerlicher zu Tage tretenden Rezeption von Kino etwas entgegen zu stellen, treibt mich da durchaus an. Ich finde, habt doch besser mal den Mut euch zu eurer Liebe zu bekennen. Gerade auch dann, wenn ihr denkt, das macht euch dann irgendwie verletzlicher. Wie schon gesagt, geil wird es erst ohne Sicherheit.
Facebook hat viele deutsche Filmkritiker auch auf persönliche Weise vernetzt. Wie wichtig ist dir das, wieviele Freundschaften konnten so entstehen oder sich entwickeln? Und sind damit Möglichkeiten gegeben, die es früher unter Cinephilen (wahlweise durch andere Passionen ersetzen) nicht gab?
Neben dem realen Aufeinandertreffen erscheint mir Facebook momentan mit als der geeignetste Ort für obsessiven Austausch. Schlicht und einfach, weil die digitale Kommunikation hier am aller weitesten greift und die räumliche Trennung so unmittelbar und direkt aufhebt. Es ist auch ein wunderbarer Ort um neue Kontakte recht unbefangen entstehen zu lassen, im Fluss zu bleiben, Strömung zu spüren. Nimmt man es ernst, verstellt sich nicht, sondern bleibt sich treu, so ist dies auch ein wunderbarer Ort um echte Verbündete zu finden. Interessante Menschen über ähnliche oder eben auch unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Kino kennenzulernen. Zusammenzuarbeiten. Um sich auseinanderzusetzen oder sich auch nur einfach in seiner Liebe zum Kino gegenseitig hochzuschaukeln. Einfach ein ganz toller Ort, um Dinge in Bewegung zu bringen.
Mehr als alle anderen Filmschreiber nutzt du das soziale Netzwerk auch für cinephil motivierte Feldzüge. Unter anderem hast du dich für einen früheren Kinostart von „Drive“ eingesetzt und warst erfolgreich damit, vom Verleih nachträglich die ungekürzte Fassung des Schwarzenegger-Films „The Last Stand“ ins Kino zu fordern. Augenblicklich hast du wieder eine solche Aktion ins Leben gerufen. Erzähl mal, was dich zu solchem Einsatz treibt, was du da schon alles versucht hast und wo du besondere Chancen auf Einflussnahme siehst.
Deutschland wird leider immer wieder als ein Ort besonders ausgeprägter Lieblosigkeit gegenüber dem Kino beschworen. Nach dem Motto, die dt. Kinozuschauer wollen es lieber etwas runtergedummt, wollen die wirklich aufregenden, erst recht nicht die herausfordernden Filme, doch gar nicht sehen, schaukelt man sich bei uns viel zu oft leider immer wieder gegenseitig darin hoch, dieses negative Gefühl dann zu zementieren. Fängt irgendwann dann selbst damit an, seine Liebe runterzuschlucken und versucht stattdessen irgendwie Programm nur noch für diejenigen zu machen, die das sowieso niemals wirklich schätzen werden. Gibt das Kino im Grunde damit auf. Will ihm keinen Wert mehr beimessen. Ein dergestalt liebloser Umgang mit dem Kino schmerzt mich. Gerade jetzt, wo das Kino an einem so entscheidenden Punkt in seiner Geschichte steht, will ich dem auch nicht einfach so tatenlos zusehen. Die digitale Revolution ist nicht der Untergang, in ihr liegt eine gewaltige Chance für das Kino, für die bedarf es aber auch eines gewissen Einsatzes. Eines Feuers. Bedarf es Mut, Offenheit und Kreativität. Jetzt einfach so weiter wie bisher zu machen, steuert in eine Sackgasse, an deren Ende so einiges zu Bruch gehen wird, was tatsächlich ungemein wertvoll ist und für das Kino von morgen auch noch dringend benötigt wird. Hier nun beispielsweise dem Kino gerade jetzt ein Leuchtfeuer wie Jonathan Glazers UNDER THE SKIN zu nehmen, wiegt einfach zu schwer, als dass ich nun im Angesicht solcher Total-Aufgabe ruhig und unbeteiligt bleiben könnte.
Wie beurteilst du als glühender Verehrer des Kinoerlebnisses den Einfluss, den Filesharing auf den Markt nimmt und wo siehst du eine davon begünstigte Lage?
Ich habe nie Kosten und Mühen gescheut für das Kino und glaube Filesharing an den Künstlern vorbei, schadet nicht nur der Filmproduktion, sondern auch letztlich Dir höchstselbst, der da nun den Film als einer der Ersten (oh, wie toll) auf dem Laptop glotzt. Es stumpft Dich dahingehend ab, dass etwas das Dich nichts kostet, weder Mühe erfordert es zu erlangen, noch Geld, Dir irgendwann ganz schnell nichts mehr wert sein wird. Klar gibt es umgekehrt auch einen Effekt, der Filmen dank ungebremstem Filesharing eine Öffentlichkeit verschafft, wie sie ihn in den oftmals ja leider sehr restriktiven Bahnen bisheriger Verwertungsketten so nicht erleben konnten, aber die negativen Einflüsse wiegen dann eben doch in den meisten Fällen schwerer. Umgekehrt liegt allerdings in den Mechanismen, die dem Filesharing zugrunde liegen, in der digitalen Vernetzung und dem Austausch nun auch ganz große Chancen für das Kino. Sehr viel mehr als es bei VHS, später dann DVD und Blu-ray, noch der Fall war, benötigt der gerade stattfindende digitale Wandel nun wieder das Kino als seine regelrechte Kathedrale, um überhaupt zu funktionieren. Ohne Kino ist das auf Laptop und TV beglotzte Bewegtbild nämlich nicht viel mehr Wert wie Fernsehen. Nur noch dröges Pixelrauschen. Erst durch das Kino, wird es zu etwas größerem. Ich glaube daher fest daran, der digitale Umbruch, so wie wir ihn jetzt gerade erleben, tut dem Kino letztlich gut. Lässt uns das Kino, den Raum, in welchem es stattfindet, noch einmal mehr wertschätzen. Der Einfluss, den der digitale Wandel dabei auf uns ausübt ist immens. Er erweitert die Möglichkeiten. Die Rahmenbedingungen gemeinschaftlich dem Kinoerlebnis zu huldigen, haben sich dadurch in weiten Teilen grundlegend verändert und verbessert. Die gerade bei uns in Deutschland leider immer noch sehr festgefahrene Strukturen, wie beispielsweise die, das Kino vor allem als Aufwertungsplattform für den angeblich so viel wichtigeren, nun aber eben gerade in sich zusammenstürzenden DVD-Markt zu begreifen, brechen nun auf. Das schafft viele Möglichkeiten, Dinge, die schon viel zu lange in Sackgassen liefen, nun in neue, aufregende Richtungen zu führen.
Für welche in deinen Augen zu wenig erschlossene Filmströmung schlägt dein Herz besonders? Gibt es Lieblingsfilme, denen du unbedingt eine filmgeschichtliche bzw. ästhetische Revision wünschst?
Ich fände es schön, wenn wir uns davon lösen könnten, solche Strömungen nicht allzu eng gesteckt verlaufen zu lassen. Ich mag es vielmehr, wenn vieles einfach übersprudelt und zusammenläuft. Brücken geschlagen werden, zwischen Ufern, die scheinbar verbindungslos über die Leinwand treiben. Ich finde auch, jeder Film ist in erster Linie ganz aus sich selbst heraus interessant. Natürlich gibt es da auch zahlreiche Filme, die noch im Verborgenen glühen und wirken, für die die Zeit vielleicht einfach noch nicht reif scheint. Deren wohlverdiente Anerkennung erst noch kommen wird. Ich schreibe deswegen mit dem gleichen Eifer über alte Filme, die ich für mich neu entdeckt habe, wie ebenfalls über aktuelles Kino, das sich in den letzten zwei, drei Jahren ja nun wahrlich auch ganz besonders spannend entwickelt. Klar sehe ich insgesamt trotzdem mehr alte Filme, schlicht weil es mehr davon gibt, aber eben auch nahezu jeden neuen, der mir auch nur leise interessant erscheint. Ich kann und will da schlicht auf nichts verzichten und habe auch immer wieder die Erfahrung gemacht, sich manchen Strömungen komplett zu verweigern, macht einen letztlich immer nur ärmer. Gerade doch dort, wo man es nicht erwartet, ist die Überraschung am unmittelbarsten und berührt dich ein Film somit noch einmal ganz besonders intensiv. Warum also sich nicht überraschen lassen?
Welches der vielen Festivals, die du bisher (regelmäßig) bereist hast, hat den schönsten Eindruck hinterlassen? Inwiefern lässt sich beschreiben, welchen Stellenwert solche Veranstaltungen haben? Sowohl privater Natur als auch auf das Schreiben bezogen. Erweitert sich da automatisch der Blick?
Klar, nichts hat da auch nur ansatzweise meinen Horizont derartig erweitert, wie die außergewöhnlichen Kongresse des Hofbauer-Kommandos. Wo, wenn nicht dort brennen die cinephilen Waldbrände? Okay, deren wohliges Knistern spürt man natürlich auch in Wien. Das /slash Filmfestival im wunderschönen, wie aus SUSPIRA (Dario Argento, 1977) entnommen scheinenden Filmcasino ist ganz klar ein Wallfahrtsort. Cannes ist natürlich ein gewaltiges Mutterschiff. Das Filmfest München, mir inzwischen beinahe lieber als die mitunter etwas freudlose Berlinale. Der Zauber und die Begeisterung für 70mm in Karlsruhe beglückt ebenso, wie ein Besuch in Géradmer, Strasbourg, Graz, auf der Viennale oder in Rotterdam. Ja, ganz besonders Rotterdam ist mir von den ganz großen Festen, klar neben Cannes und Wien das aller-liebste.
Wieviele Datenträger kaufst du im Schnitt, wie oft gehst du ins Kino und auf Festivals? Wie hoch ist durchschnittlich die Zahl der monatlich gesehenen Filme? Kommt es nicht zum Overkill wenn man so viel Zeit mit Film verbringt?
Ich sehe rund 500 Filme im Jahr. Davon in nicht Festival-Wochen rund drei bis fünf regulär, sprich: mit gelöster Eintrittskarte und in zauberhafter Begleitung im Kino. Pressevorführungen meide ich, weil mir die Atmosphäre dort selten behagt und ich auch sehr viel Wert und Mühe darauf verwende, jeden Film in einem architektonischen Rahmen zu sehen, der mir für ihn passend erscheint. Ich interessiere mich sehr für Kino-Architektur und unternehme weite Reisen, um hier Filme in ganz besonders atmosphärischer Umgebung erleben zu können. Auch ein wunderschön das Filmmaterial spürbar werden lassendes 35mm-Screening kann natürlich ein guter Beweggrund sein, dafür eine lange Anfahrt in Kauf zu nehmen. Ein Gefühl von Overkill oder Übersättigung stellt sich dabei tatsächlich höchst selten ein. Dafür ist alles viel zu sehr in Bewegung, greift viel zu spannend ineinander, baut auf einander auf, als das es irgendwie irgendwann langweilig werden könnte.
Du sollst einen Sammelband zu einem Regisseur deiner Wahl herausbringen und betreuen. Auf welchen der vielen Filmemacher, die eine solche Würdigung verdient hätten, fällt deine Wahl?
Jetzt wo es ein wunderschönes Buch über Dario Argento im deutschsprachigen Raum bereits gibt, an dem ich sogar die Freude hatte mit zwei Texten mitzuwirken und Marcus Stiglegger das ultimative Buch über Kurosawa und die Kraft des Kinos bereits geschrieben hat, wünsche ich mir vor allem noch ein Buch über Jürgen Enz, das vor Liebe berstende Phantom des deutschen Sexfilms. Auch Erwin C. Dietrich würde mich immer noch sehr reizen. Über ihn gibt es ja schon ein ziemlich schönes, vor allem biographisch angereichertes Bildband. Hier aber noch einmal von den Filmen ausgehend sich auf ihn zuzubewegen, ähnlich wie wir das bei Argento getan haben, fände ich aufregend. Auch die aktuell wohl interessantesten Filmemacher John Hyams, Bruno Dumont und Harmony Korine könnten mich natürlich reizen. Sich Walter Hill, John Milius oder auch dem Cannon-Kosmos noch einmal ganz über die Filme zu nähern, wäre sicher auch eine Reise voller spannender Abenteuer.
Oft fällt mir auf, wie sehr du wahre Poesie in Filmen siehst, denen eher selten eine so ernsthafte Auseinandersetzung zukommt. Da kann schon mal ein Film mit Jason Statham dabei sein, den du besprichst wie andere dann eher Filme von P.T. Anderson. Gibt es für dich Unterschiede, wie du an gewisse Filme rangehst oder gibst du jedem Film die Chance, der beste aller Zeiten zu sein?
Völlige Unvoreingenommenheit gibt es leider nicht. Auch spielen ganz einfach immer der Moment, an dem man einen Film in seinem Leben sieht, die Architektur des Augenblicks, eine ganz entscheidende Rolle für die eigene Wahrnehmung. Ich bin ganz klar gegen eine sowieso immer nur aufgezwungen bleibende Trennung von „Mainstream“ und „Filmkunst“, oder welche Schublade man sich da vielleicht noch ausdenken kann. Eine Schublade, wie man sie gerade mit dem „Arthouse“ in all seiner braven Spießigkeit aufzumachen versucht, wirkt hier gerade sogar ganz besonders verheerend auf das Kino ein. Es ärgert mich natürlich auch, wenn ich irgendwo dann einen Text lese, dem überhebliche Voreingenommenheit aus jeder Zeile tropft. In solch einem Fall, besonders im Angesicht schöner und wagemutiger Filme, wie beispielsweise den beiden letzten, mir ausgesprochen kunstvoll erschienen RESIDENT EVIL-Filmen von Paul W.S. Anderson, Partei zu ergreifen und diesen beizustehen, ja, förmlich nicht anders zu können, als eine Gegenposition einzunehmen, erscheint mir deswegen eben immer wieder angebracht.
Wieviel Bedeutung würdest du Filmkritik im Allgemeinen zuweisen? Gibt es wirtschaftliche Auswirkungen? Oder schreibt man unabhängig nach Medium für eine vergleichsweise nicht relevante Minderheit?
Eine Filmkritik, die nur darauf bedacht ist, mit dem Strom zu schwimmen, die meint, irgendwelche, wie auch immer gearteten Erwartungen erfüllen zu müssen, die es allen Recht machen will, die sich als Dienstleistung versteht, bewegt natürlich wenig bis gar nichts. Sie schadet dem Kino sogar eher nur, weil sie im Grunde nur danach trachtet, es künstlich klein und überschaubar zu halten. Direkte positive Auswirkungen, dann auch wirtschaftlicher Natur, hat nur ein ehrliches, von Liebe getragenes Wirken. Falsche Überheblichkeit, eine ironische Grundhaltung der Abgrenzung und Häme wiederum wirken entsprechend zerstörerisch und gehören deswegen, in meinen Augen, mit größtmöglicher Verachtung und aller Kraft bekämpft.
Abschließend noch eine Frage zum allgemeinen Filmjournalismus in Deutschland, den du als einer der wenigen präsenten und an vielen Stellen aktiven Filmschreiber ganz unabhängig beobachten kannst, weil dein Berufsleben unabhängig davon stattfindet. Was nervt dich, wo siehst du wichtige Konzepte, und welche Veränderungen würdest du dir unbedingt wünschen?
Ich glaube, es tut dringend Not sich hier immer wieder selbst zu größtmöglicher Offenheit und Neugier anzutreiben. Endlich mit jenen das Kino im Verharren halten wollenden Kräften, wie ganz besonders der Nerdszene in all ihrer Spießigkeit, den festgefahren unbeweglichen Institutionen, den Zynikern zu brechen. Stattdessen mutig auf das zu hören, was einem dieses Verliebtsein-Gefühl sagt, das man gegenüber dem Kino tief in sich pochen spürt. Sich dieses Gefühl, die Liebe, nicht vom Sarkasmus vergiften lassen. Keinem Kampf aus dem Weg gehen. Das Kino hat nicht weniger verdient.
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