Mutter Krausens Fahrt ins Glück
Von Jamal Tuschick // 19. Juli 2014 // Tagged: Deutsches Kino, featured // Keine Kommentare
Ataxie des Sozialen. Ich sehe „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ in einer Berliner Sommernacht vor dem „Lokal 94“ in Prenzlauer Berg.
1929 – Der rote Wedding im Jahr des Schwarzen Donnerstag. Weltweit liegt die Wirtschaft am Boden, das Massenelend erreicht Dimensionen des Manchester-Kapitalismus. In dieser Depression spielt „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“. Der Stummfilm „unter dem Protektorat von Käthe Kollwitz“ und in der Regie von Phil Jutzi orientiert sich an sowjetischen Produktionen, er nimmt Partei. „Reiht euch ein!“ lautet seine Losung. Die „Fahrt ins Glück“ beschleunigt mit Motiven (und zu Ehren) von Heinrich Zille, der feststellte: „Man kann einen Menschen mit seiner Wohnung genau so töten wie mit einer Axt.“ Adorno sagte Zille nach, er habe das Elend am Popo gestreichelt, Berliner Kommunisten fanden seine Schilderungen aber richtig. Am Filmanfang bricht ein geschundener Gaul zusammen, die Kamera erfasst lauter zersetzte Gesichter. Figuren wie von Egon Schiele, George Grosz, Max Beckmann. Eine Stimmung wie in „Kleine Aster:“ Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. / Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster / zwischen die Zähne geklemmt./ Als ich von der Brust aus / unter der Haut / mit einem langen Messer / Zunge und Gaumen herausschnitt, / muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt/ in das nebenliegende Gehirn.“ Man sieht im kapitalistischen Stahlgewitter zerschossene Menschen, es gibt keinen kleinbürgerlichen Betrieb und kein Glück im Winkel. Der Wedding ist eine Todeszone. Leierkastenmänner steigern ihre Attraktivität mit Affen im Delirium. Jahrmarkt und Katzenjammer – die Verzweiflung kapriolt im Veitstanz. Ataxie des Sozialen. Sogar die Gier läuft leer, es gibt nichts zu holen. Man lebt in einer andauernden Nacht der Armut. Man läuft gegen die Wände von Metropolis. Die Darstellung ist expressiv und elaboriert wie auf dem Theater. Dabei sind überwiegend Laien aus der Gegend im Spiel.
Ich sehe „Krauses Himmelfahrt“ vor dem „Lokal 94“, die Leinwand spannt auf einer Einfriedung der Kulturbrauerei. Die Reihe der Zuschauer endet nicht vor anliegenden Einkehrgelegenheiten. Das Zufallsauditorium zieht eine Linie der Aufmerksamkeit über Gehwegschäden. Es zieht eine Linie nach der anderen. Es bildet ein so charmantes Verkehrshindernis, das jedem Kapitän im Raumschiff Berlin Ausweichmanöver leichten Herzens gestattet sind. Die Polizei ist gerührt, is allet Berlin und weeste wa. Berlin steht auf Gräbern, Mutter Krauses Schlafbursche steigt als Ganove in die Gosse. „Schon wieder gibt es Kohl mit ohne Fleisch“ – es treten auf die greise Krause, der kriminelle Schläfer, dessen Geliebte, eine Trottoir-Demoiselle mit Tochter, und Krauses erwachsene Kinder Paul und Erna. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, darum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“ – Mutter Krause trägt Zeitungen aus, das Zubrot ist schon die Hauptmahlzeit. Paul verdient seine Groschen „in der Lumpenstampe“. An sich ist der junge Krause nicht verkehrt. Er verdirbt bloß in erzwungener Unselbständigkeit. Er nimmt zwanzig Mark aus der Zeitungskasse, so springt der Handlungsmotor an. Paul haut sie (vom Kumpel über den Tisch gezogen, der Rausch erlöst Paul von den Einsichten seiner Ohnmacht, die Szene gleicht einem Rückführungsvorgang: zurück in den Uterus) in einer Kneipe auf den Kopf. Die Kneipe ist blau und Paul pleite. Eine Katastrophe für die Krause, der Arbeitgeber droht mit Kündigung und Anzeige. Mutter Krause wendet sich an die Angehörigen mit einem Appell. Erna versucht auf den Strich zu gehen, sie scheitert am Ekel und flüchtet dramatisch vor einem situierten Wanst, dem das scheuende Wesen aus der Unterschicht schleierhaft bleibt. Wo will das denn hin?
Ernas Bräutigam ist der politisch bewusste Max, er initiiert die Braut auf einer Demonstration – „Reiht euch ein!“. Das Schlusstableau greift die marschierende Rotfront noch einmal auf, man sieht eine Kraft und weiß, sie endet rasch. Der Film wird gleich nach der Machtergreifung verboten.
Die Verworfenheit der Verhältnisse verwerfen auch Ernas Jungfräulichkeit. Der Schlafbursche kam vor Max zum Zug und prahlt damit. Der Film wirft die Schuld an der falsch verlorenen Unschuld dem Milieu vor, das Milieu reibt sich die Hände und lacht sich bucklig. – Zu einer extra für den Abend komponierten Partitur von Hans Anders und Thomas Ferdinand. Die Musik trifft jedes Bild im Ton, eine Zugabe ohne Worte. Max verspricht, Erna ehrlich zu machen. Er hält sein Wort mit einem großen Fressen. Die Hochzeit wird zum Anlass genommen, sich satt zu essen. Das bringt die zwanzig Mark aber auch nicht zurück. Paul nimmt mit dem Schlafburschen an einem Bruch teil, man muss ihn immerhin überreden, die Tat wird entdeckt, ein Schuss löst sich. Polizei rollt an. Mutter Krause öffnet den Gashahn, sie nimmt das Hurenkind mit: „Was hast du armet Wesen auf dieser Welt zu verlieren. Komm, du fährst mit Mutter Krause ins Jlück.“
Deutschland 1929, Regie: Phil Jutzi