Les salauds – Dreckskerle
Von Jamal Tuschick // 2. März 2014 // Tagged: featured // Keine Kommentare
Muskulös in die zweite Lebenshälfte – Dämonen der Bourgeoisie
Marco Silvestri fährt als Kapitän zur See. Der Sohn eines Schuhfabrikanten sieht aus wie ein Leuchtturm der Handelsmarine. Er geht überstürzt von Bord, seine Schwester Sandra steckt in Schwierigkeiten. Sie hat das Erbe angetreten, nun muss sie Konkurs anmelden. Eine Dynastie macht Pleite.
Wie einfach und gut der Anfang ist, versteht man am Ende. Regisseurin Claire Denis erzählt nicht-linear, sie schaltet Cut-ups und legt impressionistisch Spuren. Das Immergrün von den splitternden Spiegeln bietet sich an zur unbeholfenen Beschreibung.
Ich sehe „Les Salauds – Dreckskerle“ in einem kleinen Kino. Übriggeblieben aus der Kollektivzeit. Die Werbung richtet sich gegen Banken, empfohlen wird Attac. Das jugendliche Publikum fabuliert in zig Sprachen. Wenn der Film nicht wie ein Kaleidoskop Effekte liefert, sich seine Sprache verlangsamt, dann sieht man auf der Tribüne das Leuchten der Bildschirme. Der Griff nach dem Taschentelefon und die Messung des smarten Datenstroms erfolgen vermutlich unwillkürlich als Reaktion auf zu geringes Tempo im Zentralgeschehen. Ich glaube, die Verminderung erzeugt Schwindel.
Eine Generation bereitet sich auf den Weltraum vor. Die Enkel dieser Generation werden die extremen Entfernungen und Geschwindigkeiten der Zukunft erleben wie getrabte Ausritte.
Es ist also subversiv von Claire Denis, zuzeiten ihren Film förmlich anzuhalten und die Kamera ausschweifen zu lassen wie den Blick über einen Autobahnparkplatz. Müll neben Tonnen, so arrangiert. Die halbverdeckten Gesten eines Streits im Auto. Die Schönheit der Standspur. Ein vergessenes Blinklicht – die Geschichte baut sich so auf wie Strahlen im Dunst ihre Kraft verlieren.
Blaulicht signalisiert Unfall. Man versteht, der Unfall verlief tödlich, eine Frau irrt nackt durch Straßen. Polizistinnen beruhigen eine Aufgeregte. Schließlich stellt sich heraus, dass ist Silvestris Schwester Sandra (Julie Bataille), sie hat gerade ihren Mann verloren, Tochter Justine (Lola Créton) liegt nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus.
Ein Seemann, geschieden, zwei Töchter, kommt in Paris an, seine neue Wohnung könnte als Hommage an den letzten Tango inszeniert worden sein. Schaustellerische Szenen zeigen, dass Silvestri seine Muskeln in die zweite Lebenshälfte retten konnte. Vincent Lindon lässt sie spielen. Er spielt einen genussfähigen, im Ansatz kultivierten, markenbewussten und in sich ruhenden Supermann für Haus & Garten. Seine Züge fahren in eine Landschaft à la Serge G. Seine Poesie führt in die Keller des Existenzialismus als Rollkragenmode. Silvestri verführt eine Nachbarin, die Nachbarin rechnet ihm vor: „Du trägst Hemden für dreihundert Euro das Stück und doch versetzt du deine Uhr.“
Silvestri kündigt die Lebensversicherung und verkauft seinen Alfa Spider. Die letzte Fahrt zum Händler als melancholisches Vergnügen mit stacheliger Lenkradschaltung. Der Motor röhrt das Lied vom Verzicht. Allerdings ist dieser Klang auch eine Referenz an das französische und italienische Kino der sechziger und siebziger Jahre. Zweifellos gibt es einen Klassiker, in dem Alain Delon in einem Alfa zum Romeo wird.
Silvestri ruiniert sich, um Sandras Schulden einzudämmen. Der Zuschauer ahnt, da ist ein Fass ohne Boden aufgemacht worden. Doch Silvestri scheint zu glauben, mit seinen nautischen Mitteln und Methoden festen Grund unter die Füße der Familie kriegen zu können.
Gern würde er mit den eigenen Töchtern Zeit verbringen, aber das Schicksal seiner Nichte bindet ihn. Es schraubt ihn in einen Abgrund. Justine wurde missbraucht und dabei gefilmt. Silvestris Schwester wusste das, Sandra weiß noch mehr. Es kommt aber nicht mehr von ihr als die Bequemlichkeit: „Du warst nicht da, was sollte ich tun?“
Der neue Nachbar handelt nach Plan, wenn er die junge Mutter aus der vierten Etage verführt. Chiara Mastroianni spielt Raphaëlle als ausgehaltene, von Skrupeln kaum bedrängte Frau. Raphaëlle raucht sehr dekorativ. Sie hat einen Sohn von dem Mann, den Sandra und Marco für den großen Schuldigen halten. Edouard Laporte (Michel Subor) war ein großzügiger Geschäftsfreund des toten Schwagers. Der späte Vater finanziert dem Kind der Konkubine eine Eliteschulzeit. Laporte erklärt das so eitel wie biblisch: „Er ist mein letzter Spross.“
Ich verrate nicht mehr. Aus Vergnügen an der Sache möchte ich noch zwei Drehungen in den Dübel des Bösen schrauben. Silvestri vertraute dem Schwager, er war ihm blutsbrüderlich gewogen. Er wähnte seine schwache Schwester in kompetenten Händen. In jedem Fall war man Offizier der Kriegsmarine gewesen – das wird kurz angesprochen, als Garantie und Versprechen.
Die Hohlheit des Versprechens verwandelt sich in Säure. Sie frisst sich durch alles Gefügte. Einmal sitzen Bruder und Schwester im Büro der aufgelassenen Fabrik. Sandra reicht eine Pistole über den Schreibtisch des Patriarchen. Marco fragt: „Was soll ich damit?“
Die Unfähige, so plötzlich wie sinnlos resolut: „Nimm sie, Papa hat sie besorgt, du wirst sie brauchen.“
Doch nutzt Silvestri die Pistole gar nichts im Sumpf jener Großbourgeoisie, deren heimlicher Dämon Dominique Strauss-Kahn immer noch heißen könnte – Sexuelle Gewalt als Gesellschaftsspiel und Machtbeweis in höchsten Kreisen.
F 2013, Regie: Claire Denis