Die Moskauer Prozesse
Von Jamal Tuschick // 20. März 2014 // Tagged: featured // Keine Kommentare
Garantierte Vielfalt – Ein Dokumentarfilm von Milo Rau.
„Die Moskauer Prozesse“ bezeichnen echte Gerichtsshows aus dem 20. Jahrhundert mit führender Bolschewiki in leidtragenden Rollen. Es hat was von Spaß, wenn Milo Rau das gefräßige Wort seinem Filmtheater verpasst, als sollte an den „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ heiter erinnert werden: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen. Er vergaß hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken“, sagt Marx. Milo Raus ergebnisoffene Inszenierung (im Moskauer Sacharow-Kulturzentrum) trifft Verhandlungen, die wegen der Ausstellungen „Vorsicht! Religion“ (2003) und „Verbotene Kunst“ (2006) so wie wegen des „Pussy Riot“-Kirchenprotests (2012) geführt wurden. Angeklagte, Anwälte, Zeugen und Experten aus den amtlichen Prozessen spielen mit. In ihren historischen Rollen wenden sie sich an eine Jury aus der Mitte des Volkes. Kein Drehbuch schreibt den Juroren Ansichten vor. Ein Imker aus … sitzt neben einem Industrietaucher aus Kasachstan. Garantiert ist ethnische und religiöse Vielfalt. Der konservative TV-Journalist Maxim Schewtschenko gibt lustvoll den Staatsanwalt. Die Anklagebank belebt auch Pussy Riot-Aktivistin Katja Samuzewitsch.
Im Verlauf der Nachspiele kommt eine Kennerin zu Wort, die völlig sediert (als sei Geschichtsfatalismus ein Narkotikum) referiert, dass die in Streit stehende Kunst aus dem Nonsens-Repertoire der Achtziger und Neunziger geformt gewesen sei und überhaupt nicht ernst genommen werden wollte.
Die andere Seite, angeführt von Repräsentanten der Orthodoxie, will von Fun (ist ein Stahlbad) und doppelbödiger Verspieltheit nichts wissen. Da tritt jedes Mal ein anderer Rasputin gegen einen Freiheits- und Rechtsstaatsbegriff an, der von „der Pest des Neoliberalismus“ herrühre. Dieser „Neoliberalismus“ unterminiere „das Menschsein“. Er schaffe Zombies wie „die Mädchen von Pussy Riot“.
Kürzer gesagt, der Westen bleibt Versucher des heiligen Russland und das „neoliberale Freiheitsverständnis“ ist ein eingeschleppter Virus. Einfalt segnet den Hooligan-Patriotismus eines Wladimir Sergejew von der „Kampfsportvereinigung orthodoxer Bürger“. Dieser Stürmer der Ausstellung „Vorsicht! Religion“ weiß das Recht auf seiner Seite. Priester Wsewolod Tschaplin klärt für ihn: „Die sogenannte moderne Kunst ist ein Parasit.“
Nichts Eigenes gelänge ihr.
Schwach und gebremst erscheinen die Vertreter der Künstler und ihrer Kuratoren. Die Parteigänger der Freiheit wirken wie Dissidenten, fast schon wie Delinquenten.
Sie argumentieren mit eingezogenen Köpfen. Anna Stavickaja war Verteidigerin in den ersten beiden Prozessen. Ihre Vernunft entfaltet vor Ort geringe Kraft. Auch der Philosoph Michail Ryklin spricht aus dem inneren Verhau der Isolation. Seine Frau Anna Altschuk, eine Angeklagte im Prozess gegen „Vorsicht! Religion“, nahm sich das Leben.
Rau hat inzwischen Einreiseverbot in Russland. Sein Film konserviert eine Bereitschaft zum kurzen Prozess. Plötzlich stehen Kosaken als Garanten der öffentlichen Ordnung im Saal. Mit Händen zu greifen ist ihre Enttäuschung, dass gerade kein Blut vergossen werden darf.
D 2014, Regie: Milo Rau