Die Straßenwalze und die Geige
Von Jamal Tuschick // 24. Februar 2014 // Tagged: Russland // Keine Kommentare
Tarkowski im Knaack 94
Als Absolvent des Gerassimow-Instituts für Kinematographie dreht Andrej Tarkowski 1960 seinen Diplomfilm „Straßenwalze und Geige“. Den sehen wir heute Abend im Knaack 94. Die Kneipe in der Knaackstraße wird zum Kino. Die Atmosphäre erinnert mich an Sechzigerjahre-Nachmittage im Bahnhofskino. Rauch zirkulierte im Projektionsstrahl. Das Auditorium unterhielt sich miteinander. Da saßen Italiener und Portugiesen. Sie begriffen den Bahnhof ihrer Ankunft als Boulevard. Ein Leben zwischen Zehnbettzimmer, Bahnhof und Baustelle – Tarkowski zeigt Moskau im Fieber des Aufbaus.
Die UDSSR steht in ihrem Zenit. Befreiungsbewegungen laufen ihr in Scharen zu. Das Ende kolonialer Herrschaft gebiert weltweit sozialistische Republiken. Auch bei der Expansion ins All hält die Sowjetunion einen Vorsprung. „Straßenwalze und Geige“ konserviert eine optimistische Grundierung. Der Geschichtsverlauf ist unumkehrbar.
Ein Verspotteter gewinnt Wertschätzung, da das Proletariat sich seiner annimmt. Kantiger Straßenbauer kümmert sich um Knaben mit bourgeoisen Neigungen. Sascha (Igor Fomtschenko) spielt Geige, täglich übt er drei Stunden. Seine Begabung steht außer Frage. Sie isoliert ihn. Die Kinder im Haus und in der Gegend jagen den „Musikanten“. Sie spielen Handball mit seiner Geige und demolieren den Kasten. Nun schreitet der Arbeiter Sergei (Wladimir Samanski) ein. Er hält den Bedrängern ihre Übermacht vor: „Zehn zu eins, das ist nicht fair.“
Im Gegenzug bewundert Sascha Sergeis Straßenwalze. Wahrscheinlich war sie um 1960 das Spitzenmodell, so was wie ein Porsche des Straßenbaus. Jedenfalls wird die besondere Beziehung zwischen Mensch und Maschine ausgestellt. Sergei macht sich an seiner Walze zu schaffen, er geht ihr an die Nieren. In ihm steckt ein Ingenieur.
Jederzeit könnte man Sergei zu den Weltraumeroberinnen Belka, Strelka und Laika in eine Kapsel stecken und zum Mond schießen. Er war im Krieg, auch deshalb bewundert ihn Sascha.
Sergei ist ein Veteran in aller Bescheidenheit. Er will darüber nicht reden, was damals nötig war. Aber klar, es war hart. Sergei lehrt den Jungen keine Angst zu haben. Selbstverständlich könne einen Mut in Schwierigkeiten bringen, doch seien das die richtigen Schwierigkeiten: „Ich habe auch manches abbekommen.“
Sergei manövriert Sascha in eine Bewährungsprobe.
Sascha geht zur Musikschule, er flirtet mit einer herausgeputzten Geigerin seines Jahrgangs. Er vermacht ihr einen Apfel, der ihm auf dem Weg zugefallen ist. Zuneigung gebietet es der Beschenkten, den Apfel zu essen. Das wird symbolistisch erzählt, ihr kennt das, Freunde der Nacht. Die Kamera greift sich den Apfel und eine halbe Stunde später sieht man kurz den Aha-Erlebnis-Grips. Schon schön gebräunt.
Die Geigenlehrerin trägt sich streng, autoritäre Erziehung ist unverdächtig. Der Zuschauer erkennt an mimischen Winkelzügen und solchen Verstohlenheiten wie angetan die Lehrerin von Sascha ist. Sascha darf das nicht wissen. Vor seiner Haustür walzt Sergei Asphalt. Er zieht Sascha auf den Bock, ich stelle mir die Szene im Prenzlauer Berg vor. Das gäbe Pädophilie-Alarm.
Sascha bewährt sich am Steuer der Walze. Rotzlöffel aus der Nachbarschaft knirschen Worte des Neids und der Anerkennung. Als Zeugen der Verschmelzung von Kopf- & Handarbeit geraten sie in eine Krise. Die Rotzlöffel repräsentieren mit ihren schiefen Visagen das schlechtere Gestern angesichts einen grandiosen Morgen. Eine Abrissbirne zerlegt eine vorrevolutionäre Fassade und gibt den Blick frei auf einen vergoldeten Prospekt.
Intelligenz & Proletariat wollen gemeinsam den Bürgerkriegsklassiker „Tschapajew“ im Kino sehen, doch die Bürgerliche als Mutter vereitelt den Schulterschluss. Der Film löst sich in Wohlgefallen nicht auf. Sergei verliert den Kampf um eine außerordentliche Freundschaft gegen beharrende Kräfte. Sascha imaginiert eine Zukunft auf der Walze. Im Traum walzt er eine planierte Fläche.
Katok i skripka, UdSSR 1960, Regie: Andrej Tarkowski