Everyday I’m Chapuling
Von Jamal Tuschick // 25. Januar 2014 // Tagged: Dokumentation, featured // Keine Kommentare
Everyday I’m Chapuling – Ein Wort macht Karriere.
Ministerpräsident Erdoğan bezeichnete die Protagonisten der Istanbuler Gezi-Park-Proteste als Plünderer – çapulcu. Aktivisten griffen das Wort auf und ließen es zirkulieren. Ein grafisch hundertfach variierter Titel der Solidarisierung lautet „Everyday I’m Chapuling“. So heißt auch ein Found-Footage-Essay von Martina Priessner. Ich sehe ihn im Ballhaus Naunynstraße.
Priessners Film zeigt eine Entfesselung des Menschen in der Gemeinschaft. Immer wieder bedanken sich Protestanten für das große Gefühl in einer wohlwollenden Menge. „Das schönste Erlebnis meines Lebens“ – das hört man ein paar Mal und sieht es auch den Verzückten an. Da liegen dann revolutionäre Muslime den „Soldaten des Mustafa Kemal“ in den Armen. Der kurdische Befreiungskampf tanzt einen Kreis um die Umarmungen und ein V sagt zu einem Mikrofon: „Wir sind alle Brüder und Schwestern.“
Die von Erdoğan ermahnten Mütter („Nehmt eure Kinder mit nach Hause.“) erweitern den Widerstand besonders effektvoll: „Wir lassen unsere Kinder nicht allein.“ Priessners Zusammenschnitt zeigt den Einzug der Mütter im Stil einer Prozession. Die Kinder in der Revolte zwar, aber nicht ohne ihre Mütter. Die Symbolkraft solcher Bilder und ihr dramatisches Potential lassen sich kaum überschätzen. Dazu kommen Szenen vom öffentlichen Fastenbrechen. Es wird mit begnadigendem Duktus erklärt, unter welchen Umständen eine Moschee mit Schuhen betreten werden darf. Auf jeden Fall dann, wenn die Polizei einen jagt. Das ist sensationell – eine Gesellschaft im Rausch staatsferner Solidarität. Der Park als utopischer Raum. Das Hotel Divan wird zum Hort der Bedrängten. In einem ambulanten Supermarkt gibt’s alles umsonst. Leute haben sich im Widerstand lieben gelernt und auf der Stelle geheiratet. Die Braut gehört dem Widerstand. Zumindest lässt sie sich so feiern. Minderheiten bitten darum, Erdoğan nicht rassistisch und sexistisch zu beschimpfen. Fans verfeindeter Fußballclubs signalisieren Einigkeit. Anwohner nehmen die Passwörter aus ihren Wlan und ermöglichen so ungezügelte Kommunikation. Hacker schalten sich ein als connecting link zwischen der akuten Berichterstattung mit Zusatzfunktionen intelligenter Telefone und einer massenhaften Verbreitung. Duran Adam – Der stehende Mann kommt ins Bild. Steht einfach da auf dem Taksim-Platz, die Polizei filzt ihn, Erdem Gündüz bleibt stoisch. Seine Performance macht Schule, der stille Protest greift um sich.
Serienschauspieler unterstützen die Barrikadenbauer. Als Identifikationsfiguren haben sie Strahlkraft. Das ist eine Seite der Auseinandersetzungen. Auslösender Gegenstand des Streits im Sommer 2013 war eine Absicht der öffentlichen Hand, die Grünfläche im Stadtteil Beyoğlu zu bebauen. Tatsächlich formulierte eine außerparlamentarische Opposition ihre Abneigung gegen die Regierung. Die Formulierungen trafen einen Nerv, der Widerstand überzog die Türkei. Der Staat reagierte repressiv, das ist die andere Seite der Dokumentation. Demonstranten stehen im Regen der Wasserwerfer. Sie werden mit Gummigeschossen zurückgeworfen und in Gasschwaden um ihre Luft gebracht. Polizisten schießen in Wohnungen, demobilisierte Demonstranten werden weiter geschlagen. Der Staat geriert sich als unbeugsamer Arm.
BRD 2013, Regie: Martina Priessner