Die Frau, die sich traut
Von Jamal Tuschick // 17. Dezember 2013 // Tagged: featured // Keine Kommentare
Krebs & Kraul – „Die Frau, die sich traut“ zeigt den Alltag als Explosion im Zeichen der Diagnose.
Die Kamera fährt über das Meer. Ich erwarte eine Leiche im Wellengang. Auftreibend und aufgetrieben wie in einem Tatort vor der Küste. Der Kommissar an Bord eines Kutters weist wie Gott die Richtung an. Aber dann erscheint die „Frau, die sich traut“. Beate (Steffi Kühnert) schwimmt. Selbstverständlich schwimmt Steffi selbst nicht. In einer Szene sieht man ihr Double im Strömungskanal – nie mehr wenden. Ich sehe die Perfektion in Bewegung. So was lernt man nicht auf der Schauspielschule. Mit siebzehn war Beate die schnellste Freistilspezialistin der DDR, die olympischen Spiele in Moskau versprachen ihr Gold. Eine Schwangerschaft versprach ungewollt etwas anderes. Beate gab das Doping mit dem Training auf und wurde Mutter. Nun steht Mutter vor dem fünfzigsten Geburtstag und Ana Bolika grüßt mit Krebs über den Gartenzaun. Hello again. Eine Athletin aus der Staffel von damals krault bereits im Pool der Ewigkeit.
Ich sitze in einer Nachmittagsvorstellung, das Kino im Prenzlauer Berg ist voll. „Die Frau, die sich traut“ ist eine nachträgliche DDR-Geschichte. In ihr spiegelt sich eine Generation. Ich bin da in was hineingeraten, aus Liebe zum Schwimmsport. Ich muss mich zusammenreißen, um den Film nicht nur als Vorwand zu nehmen, um Euch die Faszination Freistil beizubringen.
In den Siebzigern waren DDR-Schwimmerinnen hörbar im Stimmbruch. Ihre Trainer sagten: „Unsere Mädchen sollen schwimmen. Singen sollen sie nicht.“ Daran erinnert mich Beate. Sie arbeitet in einer Groß-Reinigung, einem dampfendem und zischenden Betrieb voller alleinerziehender, DDR-taffer Frauen. Daheim heißt für Beate Haus und Garten im Rostocker Umland. Der Sohn wohnt mit seiner Freundin unter dem Dach. Beate wäscht und kocht für drei, vier, fünf. Auch Tochter Rike und eine Enkeltochter saugen ihre Fürsorge.
Das ist die erste Story in einem Film von Marc Rensing. Eine vor Neunundachtzig erwachsen gewordene Generation alleinerziehender Frauen kommt klar. Diese Frauen sind keine Alkoholikerinnen geworden. Sie konsultieren keine Wahrsager und schneiden sich nicht ständig in die Pulsadern. Sie haben Blutsschwestern, da kann sich jeder Winnetou hinten anstellen. Sie halten sich fit, gehen tanzen und bezahlen die Zechen ihrer seltsam unselbständigen Kinder. Die zweite Story. Wenn sie denn den Krebsbescheid kriegen, dann nehmen sie das Training wieder auf und schwimmen (unter optimalen Bedingungen) dreiunddreißig Kilometer durch den Ärmelkanal. Von Dover nach Calais.
Der Ärmelkanal ist kalt und zählt zu den stark befahrenen Wasserstraßen. Die Durchquerungen müssen gemeldet, genehmigt und von einem Boot begleitet werden. Beate klemmt sich dahinter, die Sache kostet zudem eine Stange. Beate baut eine Rudermaschine zusammen, die dreißig Jahre eingemottet war. Sie läuft am Strand und schwimmt in der Ostsee. Nachts härtet sie sich in einer Badewanne voller Eiswürfel ab. Unterstützt wird sie von Freundin Henni (Jenny Schily) – einem herben Typ. Aber herzlich. Henni spielt die zweite Hauptrolle als Vorstadt-Vamp. Sie verführt jüngere Männer. „Schau mir in die Augen, Kleiner.“ Früher hätte man gesagt, Henni sei kess. Aber „kess“ sagt man, glaube ich, nicht mehr.
Warum halte ich mich so lange mit Henni auf? Jedenfalls gefällt mir Jenny Schily.
Beate verschweigt der Familie ihre Diagnose. Sie will für ihre Kinder keine Belastung sein. Rike (Christina Hecke) studiert schon viel zu lange Medizin. Die Enkeltochter scheint mehr an Oma zu hängen als an der Studentin. Beates Sohn Alex (Steve Windolf) findet aus seiner häuslichen Bequemlichkeit schwer ins Offene einer streitenden Gesellschaft. Er ist kurz vor fassungslos, als Beate den mütterlichen Frondienst kündigt. Versunken im Anblick schmutziger Wäsche, dämmert ihm ein Zeitenwechsel.
Beate verweigert der Diagnose Krebs die Patientengefolgschaft. Den Feind im Wasser zu besiegen, das ist ihre Bereitschaft. Todkrank schwimmt sie der Form ihres Lebens entgegen.
Was ist das? Wahnsinn? Resilienz? Einmal fragt Rike: „Glaubst du, dass sich so ein Tumor in Luft auflöst?“
Beate geht nicht zur Kernspintomographie, sie schwimmt im Strömungskanal – noch einmal etwas Besonderes sein. Nicht einfach verrecken. Wieder und wieder scheint Beate schon besiegt. An ihrem Geburtstag steigt sie blutend aus der See. Man liefert sie ein, Beate haut ab aus dem Krankenhaus. Allein reist sie nach Dover. Den heiseren Hohn der Möwen im Ohr. Am nächsten Morgen ist Henni am Start. Very british meldet der Kapitän des Begleitboots: „Wir haben einen Mann im Wasser.“ Jetzt wird Moskau nachgeholt.
BRD 2013, Regie: Marc Rensing