Blu-ray: Haftbefehl aka Présumé Coupable
Von Michael Schleeh // 13. November 2013 // Tagged: featured, Frankreich, Gefängnisfilm, Handkamera, Justizirrtum, Kindesmißbrauch, Pädophilie // Keine Kommentare
Mit einiger Verzögerung hat es nun dieses Drama um einen haltlosen Missbrauchsvorwurf auf DVD und Blu-ray geschafft. Es ist ein Justizskandal sondergleichen, der sich im Nachbarland Frankreich über Jahre hinweg hingezogen hatte und bei dem allzu viele Rädchen einer großen bürokratischen Maschinerie wie von selbst ineinander griffen, die Kontrollinstanzen versagten und so, wie scheinbar unaufhaltsam, das Unglück über die insgesamt 18 Beschuldigten hereinbrach. Anschuldigungen, die das Leben vieler Menschen vollständig zerstört haben. Möglicherweise hat der Erfolg des skandinavischen Films JAGTEN mit Mads Mikkelsen, der thematisch ganz ähnlich gelagert ist, die Veröffentlichung des Films nun plausibel erscheinen lassen. Gleichwie: PRÉSUMÉ COUPABLE ist ein intensives und sprachlos machendes Drama, das vor allem das Schicksal von Alain Marécaux (Philippe Torreton) und seiner Frau Edith (Noémie Lvovsky) ins Zentrum stellt.
Es ist das Schicksal dieser Familie, der beiden Eltern und ihrer drei Kinder, auf die sich der Film konzentriert. Die (Hand-) Kamera ist immer sehr dicht dran an den Figuren, man bekommt so ein sehr nahes, fast schon intimes Verhältnis zu ihnen. Die Erzeugung dieser quasi-authentischen Bilder korrespondiert zur Welthaltigkeit des Films, der auf der wahren, sogenannten „Outreau-Affäre“ beruht, einem nicht nur in Frankreich schlagzeilenmachenden Pädophilen-Prozeß, sowie auf den Aufzeichnungen aus dem Gefängnis des Protagonisten, der seine Erlebnisse schriftstellerisch verarbeitete. Es ist der Film des Schauspielers Phillipe Torreton, das kann man schon so sagen, auch wenn alle anderen Figuren phantastisch besetzt sind. Aber Torreton, der im Fokus steht, und der mit jedem Rückschlag immer tiefer im juristischen Sumpf versinkt, ist ein hervorragender Mime. Die psychische Zerrüttung scheint sich ihm ins Gesicht einzuschreiben, sein Körper magert zusehends ab. Bis er sich aus Protest für einen Hungerstreik entscheiden wird und er sich ohne eigene Kraft nicht mehr aus dem Bett wird erheben können (dies dann auch nicht die einzige Szene, in der man an Steve McQueens HUNGER denken muss, in dem Michael Fassbender an physische Grenzen getrieben wird).
Aber völlig geglückt ist HAFTBEFEHL, so der etwas arg knallig geratene deutsche Titel, dann doch nicht. Ein, zwei Szenen, in denen Marécaux‘ Psyche ins Wahnhafte kippt, sind etwas unbeholfen inszeniert und wirken wie amateurhafte Fremkörper im ansonsten sehr tight zusammengehaltenen Film. Und die Darsteller der Famille der Kläger wurden für diesen Film, der ansonsten das richtige Maß immer kennt, etwas zu überdeutlich aus der asozialen Banlieu herangekarrt. Denn am Ende im Gerichtssaal, da gerät der Fall schließlich zur Groteske und Empörung und Spott ergießt sich über die französische Justiz. Aber da sind die Leben aller Beteiligten schon längst irreparabel beschädigt oder gründlich zerstört. Zurück bleibt fassungsloses Kopfschütteln und das Bewußtsein völliger Machtlosigkeit angesichts eines übermächtigen, letztlich menschenfeindlichen Staats-Apparats. Kafkas Alpträume in echt.
Koch Media bringt den Film als DVD wie als Blu-ray (hierfür gesehen) unter dem bedenklichen, wortspielerischen Titel HAFTBEFEHL – IM ZWEIFEL GEGEN DEN ANGEKLAGTEN heraus; mit einem Cover, das unpassenderweise etwas an Russenmafia denken lässt. Es findet sich sowohl eine deutsche Synchronspur wie auch das französische Original mit zuschaltbaren deutschen Untertiteln auf der Disc. Die Extras sind sehr kompakt ausgefallen: ein kurzes, siebenminütiges Making-Off, das Eindrücke vom Dreh versammelt, sowie der Originaltrailer sind vorhanden. Ein Booklet lag nicht zur Rezension vor – dessen Existenz wäre aber zu wünschen, da gerade bei diesem Fall einiges an dokumentarischem Material sicherlich recht einfach aufzutreiben wäre/ist. Ohne dieses darf die Ausstattung als sehr spärlich betrachtet werden.
Frankreich/Belgien 2011; Regie: Vincent Garenq.
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