Die Königin von Versailles
Von Joris Julius-Sabinus // 13. Juni 2013 // Tagged: featured // Keine Kommentare
Solange Menschen als Personifikationen von Waren handeln, exekutieren sie eine zerstörerische Logik, deren prima causa nicht in der Schlechtigkeit und im bösen Willen beteiligter Akteure zu suchen ist. Es sollte eine von den vielen Dokumentationen über die Reichen und Schönen werden. Lauren Greenfield beginnt 2007 einen Film über das Milliardärs- Ehepaar David und Jackie Siegel zu realisieren. David macht sein Geld mit Time-Sharing. Seine Familie lebt und verwirklicht sich in einer (alp)traumhaft großen Villa mit mehreren Tausend Quadratmetern Wohnfläche. Doch das reicht noch nicht.
Während eines Frankreich-Urlaubs beschließen Jackie und David das Schloss Versailles in Orlando, Florida nachzubauen. Nun gut Subtilität ist nicht gerade die Stärke des Ehepaars Siegel. Das Einfamilienhaus, das vor gar nicht so langer Zeit noch dafür sorgte, dass ein jeder sich schon vor dem Zähneputzen mit roher Verschlafenheit behelligte, und dennoch den Grenzverkehr zwischen Intimität und Zivilität regelte, ist hier überwunden. Die sieben Kinder sollen einen eigenen Hausflügel für sich bekommen. Platz für ein Orchester, Baseball und Tennisplätze muss her. Für die Dame des Hauses ist neben der eigenen Sushi-Bar ein begehbarer Kleiderschrank von über hundert Quadratmetern vorgesehen. Die Einrichtung des Hauses ist selbstredend noch einmal so teuer wie das Grundstück selbst. Der Marmorfußboden alleine kostet schon fünf Millionen Dollar. Dieses Bau-Ungetüm ist Abbild des heute omnipräsent gewordenen Typus des erfahrungslosen Kosmopoliten und somit auch der manifestierte Widerruf des selbigen. David, der Fred Feuerstein-Milliardär und die schulterfreie Windelkleidträgerin Jackie – irgendwie meint man sie aus irgendeiner Scripted Reality-Sendung zu kennen. Das Paar verkörpert den amerikanischen Traum, doch weil sich im Alltag solcher Selbstdarsteller bei jeder Reise und jedem Aufenthalt Erwerb und Freizeit, Zweckfreiheit und Zweck miteinander verfilzen, lässt ihre konformistische Umtriebigkeit nie genug Raum, während umgekehrt die Arbeit zu sehr notwendige Selbstperformance ist, um sich in spezifischen Fähigkeiten zu kristallisieren. Es hat aber auch sein Gutes. Der Altersunterschied zwischen den Beiden, 30 Jahre, ist kein Hindernis für eine ehrliche und aufrichtige Beziehung. Sie lieben sich und die Welt gehört (wortwörtlich) Ihnen. Dann kam die Finanzkrise.
An der Stelle sollen einige allgemeine Überlegungen zur (Time Share) Ferienanlage ihren Platz finden. Das Hotel alter Prägung erhielt seinen halb morbiden, halb abenteuerlichen Reiz dadurch, dass in ihm äußerste Anonymität und äußerste Intimität zusammenkamen. Nirgends vermochte man so wie hier zugleich ganz und gar für sich und doch nur einer unter vielen zu sein. In den Hotels benutzten, gar nicht mal nur in der Fiktion, die Gäste falsche Namen, um endlich einmal sie selbst sein zu können. Je mehr die Gastlichkeit als anachronistische Betriebsstörung aus der mobilen Gesellschaft getilgt wurde, desto mehr galt als ungesellig, wer, statt Quartier bei Freunden oder Bekannten zu machen, für sich das Privileg in Anspruch nahm, im Hotel zu wohnen. Die (Time-Share)-Anlage löste all das auf und so hockt man vielmehr in wechselnden, verschieden dauerhaften, vom Druck des gar nicht so eigenen Lebens erzwungenen Konstellationen beieinander.
Jedenfalls stehen Davids Time Sharing Anlagen vor dem Problem refinanziert zu werden, da in sein Unternehmen Kredite von beträchtlichem Ausmaß gepumpt worden sind. Es gibt wohl kaum Unternehmer, die ohne dieses Finanzierungsinstrument auskommen und wohl keinen, der nicht blufft und blendet. Werden diese Prädikate aber substantivistisch aufgeladen, das Treibmittel zur Methode verdichtet, können sie am Ende die Substanz zerstören. So wurde David Siegel regelrecht abhängig von leicht verfügbaren Krediten und verkauft seine Ferienwohnungen bewusst an Menschen, die sich so etwas nicht leisten können. Angelockt durch Gratis-Eintrittskarten für Disney World, werden die potentiellen Kunden von geschulten Verkäufern durch die Anlage (vor)geführt. Nach Ende des Rundgangs vermitteln die Verkäufer den Kunden, dass der Erwerb einer dieser luxuriösen Ferienanlagen langfristig billiger sei. Rausch, Droge, Placebo. Alles in Ordnung. Wie soll das Versetzen von Grundstücken auch sonst gelingen? Durch eine Statistik? Eine Kurve? Gar ein Diagramm? Ach das kommt am Ende des Rundgangs. Es gibt keinen Gewinn ohne Rausch, aber ein Rausch ist noch kein Gewinn. Die Dosis, mit der Siegel operierte, war eine Überdosis. Was Geld betrifft, ist er kein Trinker, sondern ein Säufer. Als er an diesem Punkt ankommt und realisiert, dass sein Unternehmen in Schwierigkeiten steckt, gewinnen die analen Charakterzüge bei ihm an Bedeutung. Als Unternehmer ist und muss er bis zu einem gewissen Grad ein Spieler sein. Darüber hinaus ist David aber auch ausgesprochen verantwortungsbewusst. Das Irrationale daran ist freilich, dass er nicht um des Lebensunterhalts willen wirtschaftet, sondern Besitzen und Sparen werden, unabhängig von dem Genuss des Erworbenen, zu ethischen Forderungen bzw. zu an sich lustvollem Verhalten. Er entlässt also einen Großteil seiner Arbeitnehmer und achtet bei sich zu Hause darauf, dass nicht allzu viel Strom verbraucht wird. Diese Mitleidslosigkeit erscheint im Bewusstsein des Unternehmers keineswegs als etwas Unethisches. Diese Mitleidslosigkeit stellt eine notwendige Anpassung an die ökonomische Struktur des Kapitalismus dar. Das Prinzip der freien Konkurrenz und der durch sie vor sich gehenden Auslese verlangt Individuen, die nicht durch Mitleid im wirtschaftlichen Handeln gehemmt werden. Die Beziehungen der Menschen werden wesentlich nicht mehr von der Liebe gestaltet, sondern von rationalen Erwägungen. So hat David rein beruflichen Kontakt zu seinem Sohn Richard, der einer früheren Beziehung entstammt.
Doch nicht nur die Kredite, die in Davids Unternehmen geflossen sind, müssen getilgt werden. Der Nachbau des Schlosses Versailles in Orlando steht auf der Kippe, weil David auch dafür das Geld nicht einbringen kann. Mit Schloss Versailles passiert das Gleiche wie mit einer Tomate auf dem Basar: Links ist der Gebrauchswert, rechts der Tauschwert, charakterisiert durch eine Zahl, die Dank der Krise rasend nach unten geht. Für David offenbart sich der Markt wohl zum ersten Mal als Raum gegenseitiger Abgleichung, ein Platz, wo der kommerzielle Wettbewerb absolut gesetzt wird. Da treten Konkurrenten an, nicht Freunde auf. Die schmerzhafte Trennung der Konsumenten von den Produkten wird dort nicht aufgehoben, sondern Produkte werden als Waren freigekauft. Doch David kämpft wie er sein ganzes Leben gekämpft hat – hart und verbissen. In dem Zeitraum verbittert er auch ein wenig.
Jackie wird während der ganzen Zeit von ihrem Mann im Unklaren gelassen: „Ich muss mir wohl eure Dokumentation anschauen um zu verstehen was los ist.“ Dabei ist Jackie nicht dumm. Als junge Erwachsene studierte sie Informatik und arbeitete eine Zeitlang bei IBM. Anschließend gewann sie einen Schönheitswettbewerb und lernte so ihren ersten Mann kennen. Die Ehe lief nicht gut. Ihr erster Ehemann schlug sie und verletzte sie einmal absichtlich im Gesicht, damit sie nie wieder modeln konnte. Danach nahm sie einen Job im Krankenhaus an und wusch für 3,35 Dollar die Stunde Körper von frisch Verstorbenen. Doch sie raffte sich wieder auf, wurde Mrs. Florida und lernte ihren Mann David kennen. Fortan muss sich Jackie nur noch um ihr Aussehen und ihre sieben Kinder kümmern. Den Rest erledigen die Dienstboten. Es ist ein Familienbild aus dem 17. Jahrhundert, als sich das Modell der passiven, sanften und freundlichen Hausherrin als Norm durchsetzte. Dazu gesellt sich die Rolle als Spieß, der die Kindheit der Sprösslinge als Investitionsphase begreift. Die lieben Kleinen werden nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Als sich die finanzielle Lage zuspitzt und beinahe das gesamte Personal gehen muss, fällt zum ersten Mal die Hausarbeit von mehreren Tausend Quadratmetern an. Einige Haustiere verenden. Die unzähligen Hunde koten das Haus zu. Jackie verkörpert die Tragik einer Sphären-Realität, die für mehrere Hundert Jahre als Norm galt. Es gibt den öffentlichen Bereich, der Geld einbringt und den Privatbereich, der den Tätigkeiten wie Hege, Pflege und Liebe vorbehalten ist. Die Moral im Privatbereich ist der Moral des öffentlichen Bereichs entgegengesetzt. Jackie überschüttet ihren Mann und Kinder mit Geschenken, unterzieht sich einer Schönheits-OP, damit ihr Mann sie nicht gegen „zwei 20-Jährige eintauscht“ und wird dabei die ganze Zeit im Unklaren darüber gelassen, wie knapp es manchmal ist: „Ich bin nicht dumm, aber ohne Informationen sieht man nun einmal dumm aus.“ Ihre Taten werden von ihrem Mann David minderbewertet, übersehen oder vergessen, wobei Jackie im Modus der beschlossenen Unterordnung braungebrannt und mit überkreuzten Beinen auf der Couch sitzt. Das geliftete Gesicht schreibt ihre Marginalisierung ein. Es ist somit auch nicht verwunderlich, dass Jackie sich zum Weihnachtsfest überteuerten Kaviar und David eine Tafel Schokolade gönnt. Es ist so typisch, dass Reproduktion und Produktion, hegemoniale und subalterne Momente eben nicht einfach aufzulösen sind. Dies würde gerade die perfide Logik ignorieren, die in der fetischistischen Verkehrung von Inhalt und Form liegt: es ist kein reales Substrat, keine wirkliche Basis der Tätigkeiten auffindbar. Real wird nur, was in der Form aufgeht und zugleich ist die Form der Arbeit die einzige relevante Realität. So wohnt ihrem Besuch bei McDonalds in einer Stretch-Limousine eine merkwürdige Tragik inne. Und nicht nur dort: Ihr Gestaltungswille für das Versailles von Orlando ist durch die finanzielle Situation ausgebremst und als sie in den öffentlichen Raum vordringt, in dem sie einer alten Freundin 5000 Dollar für die sich als vergeblich herausstellende Rettung des Einfamilienhauses leiht, erfasst sie zum ersten Mal wie schwer die Immobilienkrise auch ihre persönliche Umgebung getroffen hat.
Dabei war ihr Chauffeur selbst einmal Immobilienmakler, der alles während des Crashs verlor und nun noch einmal ganz von vorne anfangen muss. Das philippinische Kindermädchen hat seit 11 Jahren die eigene Familie nicht mehr gesehen. Bei ihrer Abreise versprach sie ihren Angehörigen: „Ich werde so lange arbeiten, bis wir uns ein Haus aus Stein bauen können.“ Als ihr Vater starb, konnte sie ihm wenigstens einen Grabstein finanzieren. Neben einem merkwürdigen, aber nachvollziehbaren Eskapismus verbindet alle Akteure die Tatsache, dass in warenproduzierenden Gesellschaften ein jeder nicht für sich selber produziert und somit auch nichts außer dem Arbeitsrelevanten besprechen muss. Man produziert vielmehr Dinge, damit diese dann von anderen Menschen konsumiert werden können. (Jackie produziert ihr Aussehen, damit David es konsumieren kann. David verkauft Time-Share-Wohnungen, damit seine Familie den Lebensstand halten kann. Das Kindermädchen hütet die Kinder, damit Jackie sich um sich selbst kümmern kann. usw.) Dafür bekommen sie Geld, und für dieses Geld können sie sich die Arbeitsprodukte anderer kaufen. (Jackie und David kaufen sich Versailles. Das Kindermädchen kann ihrem Vater einen Grabstein bezahlen. Der Chauffeur sitzt nicht auf der Straße).
In den letzten Jahren wurde besonders bei Serien gerne mal die Vergleichsgröße Balzac herangezogen. Wahrscheinlich bloß wegen der Länge der Serie. Lauren Greenfields Dokumentation dagegen verdichtet auf 100 Minuten das Schicksal von Menschen und ihren Verhältnissen ohne dabei mit dem Zeigefinger zu wedeln. Am Ende kann David die Versteigerung von Versailles abwenden, muss jedoch Anteile von seinem Las-Vegas-Hochhaus verkaufen. Nun werden die Dienstboten und die Arbeitnehmer wieder zurückkommen und vielleicht kann das Kindermädchen ihre Familie besuchen.
USA 2012, Regie: Lauren Greenfield