Die vierte Wand / Quarta Parete

Ich weiß nicht genau, warum ich diesen Film ziemlich hoch einschätze. Zum Teil wegen seiner transparenten Vielschichtigkeit – als lägen Folien mit sehr verschiedenen Erzählungen übereinander – und seiner ambivalenten Lebendigkeit. Seine Menschen sind wach. Aufgewacht vor Schreck, über etwas Buntes und Suspektes, eine Macht, ein Karussell (das Wort kam damals oft in Songtexten vor), das ihre Ablehnung oder ihren Einstieg fordert. Sie malen sich die Augen bunt, trinken sich in Stimmung, steigen ein in Geschäftsbeziehungen, machen Liebe mit den Rudelführern oder mit tröstenden Außenseitern.

Marco (Paolo Turco), ein zu allen netter junger Mod, dessen niedlichem Gesicht man trotz seiner fragenden Ruhe jeden Gedanken ansieht, kehrt nach vier Jahren College in England zurück zu seiner reichen, exaltierten Familie nach Italien; der Vater hat eine Plastikfabrik.

Seine Heimatstadt hat sich stark verändert. Die Leute befinden sich in einem profunden Umwandlungsprozess, der sie aufstachelt. Besonders in den Frauen brennt es. Eine neue Welle der Moderne ist einmarschiert, mit Regelbrüchen und der Forderung nach radikaler Freizügigkeit. Sie fegt den Ballast geliebter alter Dinge und Gedanken hinweg und macht sich mit harscher Militanz an den Umbau der Gesellschaft; überall sind Baustellen in der Stadt („Der Kran sieht wie ein Galgen aus, an dem sie die Träume der Menschen aufhängen.“) Pop erscheint als aggressiv knallbunte, alles vereinnahmende Propaganda für die neue, mörderische Art des Kapitalismus; seine latent „böse“ Ästhetik dekoriert den Film mit Schockfarben, Lurex, Postern, Schallplatten, Alkoholreklamen, ironischer Musik. An der Oberfläche ist es musikalisch, munter, bunt, ironisch. Daraus aber quillt Blut.

 

 

 

 

In seinen Mitmenschen begegnen Marco die auf dem Markt befindlichen Lebenseinstellungen und Überlebenstechniken, exemplarisch und episodisch, und wie Bauklötzchen – interessante, sehr verschiedene Bauklötzchen, plakativ, mit unerwarteten Funktionen, stachelig, beißend, Wunden reißend. Marco bleibt lange ein unschuldiger, gutwilliger Beobachter und verurteilt nicht, worüber er sich wundert. Aber das ändert sich, als es ihm an die tieferen Gefühle und den Körper geht.

Wir Gucker alter Filme wissen, wie in den 70er Jahren die Konservativen die Hippiebewegung als Bedrohung ihrer Gefühle sahen. Dass aber auch die Popwelle der 60er Jahre ein zweischneidiger Umbruch war und wie ein Feind wirken konnte, vergesse ich manchmal. In Filmen wie IO LA CONOSCEVO BENE/ICH HABE SIE GUT GEKANNT, IO EMMANUELLE, ASPHALT COWBOY oder auch DER LETZTE TANGO IN PARIS ist das aber eines der unterschwelligen Themen; Paul/Marlon Brando muss im Letzteren am Ende sterben, weil er mit seiner alten, warmen, wilden und chaotischen Sexualität die neue Art, zu sein, stört und bedroht.

In DIE VIERTE WAND will die moderne, leichtfertige Sexualität der Schwester auf Marco übergreifen und seine romantischen Gefühle gefährden. Die Geschwister sind einander nah, erotisch knisternd, was Marco nicht will; alles soll kindlich bleiben. Marcia aber lässt sich sogar nackt fotografieren und vermarkten, durch eine von ihr angehimmelte, lesbische Werbefotografin in einer der hippen Werkstätten, in denen Pop hergestellt wird.

Nichts ist mehr wie es sein sollte. Marco verachtet, was er vorfindet: seine mondäne, kaputte, sich mit Alkohol und dem Gärtner zu trösten suchende Mutter. Die naive, oberflächliche Marcia, die darin aufgeht, jung und chic zu sein und zu gefallen. Den auf Erfolg ausgerichteten Vater („Es ist wie ein Krieg. Das sind die Spielregeln. Ich habe sie nicht erfunden“, sagt er dem alten Herzensfreund, nachdem er dessen Firma ruiniert hat) mitsamt seiner jungenfressenden Geliebten und dem „aufgeschlossenen“ Hauspfarrer, der sich von ihm schmieren lässt („Unsere Kirche ist keine Insel, sondern Teil einer dynamischen Welt“). Die uneinigen, wirren revolutionären Studenten. Die in Mode und Kunst einflussreichen Schwulen. Das Drogenmädchen, das nicht arbeiten und ohne Schuldgefühl die revolutionäre, freie Liebe leben will. Alles ist für Marco ein befremdliches, egoistisches, geldgeiles, verdorbenes Theater, in dem die streitenden Darsteller ihre erwarteten Phrasen sagen.

„Wir sind eingeschlossen in schwarze Schachteln mit vier undurchdringbaren Wänden“, ruft ihm ein lebhafter Freund aus Englandtagen aus seinem für eine Weltreise umgerüsteten Kleinbus zu, „die Tür ist über unseren Köpfen, aber immer rennst du gegen die Wände, bis du verrückt wirst. Es gibt nur einen Ausweg: Bewege dich, beweg dich weiter.“

Ein widersprüchlicher, guter Rat, doch Marco verbohrt sich in seine strenge Haltung. Besonders die Sexualität der anderen macht ihn fertig; er sieht keine Unschuld, nicht mal bei dem netten Zufallsmädchen, das ohne Romantik mit ihm schlafen will, und dann will auch noch seine Schwester was von ihm. Am Ende macht er etwas wirklich Böses (das ich nicht spoilern will), um die Gefühlsmaschine abzustellen, die ihn bedrängt. Aber es hilft nicht. Die Welt geht exakt so weiter wie zuvor.

Ein paranoider Film, wie „Taxi Driver“, „Ein Mann sieht rot“, „Cruising“ oder „Das dritte Geschlecht“. Aber die Paranoia ist hier so klar zu erkennen, dass es leicht fällt, den Film nicht als Anklage moderner Unmoral aufzufassen, sondern als die schmerzhaft überzeichnete Sichtweise eines zornigen jungen Mannes, der seine Andersartigkeit nicht lebt, sondern sich in Vorwürfen aufreibt und sich dabei verliert.

Italien/Frankreich 1969, Regie: Adriano Bolzoni

Um den Konflikt zwischen emotionaler Tradition und Moderne wie in dem Film geht es auch in vielen Heimatfilmen. Und es sind auch meine Themen, fiel mir während des Schreibens auf. Die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas bis ins eigene Zuhause, die durch Kunst und Kultur in den Heranwachsenden genährten Träume (manche nennen sie auch Illusionen), die sich nach der Kindheit in verschiedene Richtungen entwickelnden Geschwister: Ein unveröffentlichter Roman von mir geht darüber. Nur eskalieren in ihm die Gefühle nicht; sie laufen nicht gegen vier Wände, sondern versacken und ersticken in ihrer schwarzen Schachtel, in stillem Wahnsinn und kleinmütigem Verzicht.

Hier Christophs Besprechung des Films auf „Eskalierende Träume“.

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Über den Autor

Silvia Szymanski, geb. 1958 in Merkstein, war Sängerin/Songwriterin der Band "The Me-Janes" und veröffentlichte 1997 ihren Debutroman "Chemische Reinigung". Weitere Romane, Storys und Artikel folgten.

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