Alice Doesn’t Live Here Anymore
Von Maria Wildeisen // 3. Juli 2012 // Tagged: featured // Keine Kommentare
Bereits die erste Sequenz von Alice Doesn’t Live Here Anymore bringt das Dilemma, das die Hauptfigur in diesem zu Film zu durchleben und zu lösen hat, treffend auf den Punkt. In einer schon fast unerträglich kitschigen Szenerie trödelt die kleine Alice singend dem ganz in rotes Abendlicht getauchten Elternhaus entgegen, vor dem dann jedoch nicht die liebende Mutti wartet, sondern eine, die damit droht, „die lebenden Tageslichter“ aus ihrem Kind zu schlagen. In dieser Situation klammert sich das gar nicht ängstliche, trotzige Kind an seine Überzeugung, gut singen zu können, und hier ist der zentrale Konflikt des Films schon zusammengefasst: Auf der einen Seite die Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat, die sich für Alice zumeist über ihre unappetitlichen Nebeneffekte offenbart, und – auf der anderen Seite – ein Traum von Selbstverwirklichung, der mit zunehmendem Alter mehr und mehr zu einem abstrakten Fluchtpunkt wird. Viel mehr psychologischen Tiefgang hat der Film nicht zu bieten, aber das tut seinem Unterhaltungswert wenig Abbruch.
Die eigentliche Handlung setzt fast 30 Jahre später ein. Die nun 35jährige Alice (Ellen Burstyn) hat sich nach einer kurzen Karriere als Sängerin in Monterey für Familie und ein Leben in Socorro, New Mexiko, entschieden, wo sie sich in den Konfrontationen zwischen ihrem tyrannischen Ehemann und ihrem altklugen, aber sympathischen 11jährigen Weirdo von Sohn (Alfred Lutter) aufreibt. Fröhlich-aggressiv, mit mädchenhaftem Trotz und einer gehörigen Portion Selbstironie, versucht sie den Widrigkeiten ihres Alltags zu begegnen, bis ihr Mann bei einem Unfall ums Leben kommt und sie, nun mittellos, samt Sohn Tommy die ihr verhasste Stadt verlässt. Ihr Ziel ist und bleibt Monterey, das sie den ganzen Film über nostalgisch als den Ort verklärt, von dem aus in ihrem Leben alles so hätte laufen können, wie sie es sich als kleines Mädchen erträumt hat.
Zunächst aber verläuft dieser Weg nach Monterey über Phoenix, Arizona, wo Alice tatsächlich als Sängerin in einer Piano-Bar anheuern kann. Doch auch hier treten in Gestalt von Ben, gespielt von dem jungen und erstaunlich wenig bärbeißigen Harvey Keitel, wieder ein Mann und die Lockungen familiärer Geborgenheit in ihr Leben. Und wieder wird diese Aussicht zum Albtraum, denn Ben entpuppt sich als gewalttätiger Soziopath – in diesen beängstigenden Szenen läuft Harvey Keitel zur Hochform auf und zeigt bereits die darstellerische Intensität, die ihn auch in seinen späteren Filmen auszeichnet. Gerade noch rechtzeitig gelingt Alice die Flucht mit Tommy, der tapfer versucht, ein recht pflegleichter Sohn, bester Freund und Vaterfigur in einem zu sein und unter der Last dieser Aufgabe zusehends vereinsamt.
Dass der Film trotz dieser Katastrophen nie an Helligkeit und positiver Grundstimmung verliert, ist vor allem dem Gespann von Mutter und Sohn und damit den schauspielerischen Leistungen von Ellen Burstyn (sie erhielt für diese Rolle den Oscar sowie den BAFTA Award) und Alfred Lutter zu verdanken. Lachend und weinend, stellenweise gleichzeitig, kalauern und witzeln sich die beiden durch den Film, reden abwechselnd wie dreckige Bierkutscher, kapriziöse Diven und pubertierende Teenager über sexy Unterwäsche, Gorillas und andere fundamentale Aspekte des Lebens. Dabei schütten sie sich auch schon mal gegenseitig ihre Getränke über den Kopf.
Die beiden landen schließlich in Tucson, wo Alice als Kellnerin in einem ranzig-heimeligen Diner mit liebenswürdigen, hochgradig schrulligen Kolleginnen zu arbeiten beginnt, an die sie sich – mittlerweile doppelt und dreifach gebranntes Kind in punkto Bindungen – nur widerwillig und vorsichtig gewöhnt. Immer mit einem Bein auf der Flucht, verliebt sie sich in den gutmütigen Farmer David, gespielt von Kris Kristofferson, der hier so schön ist, dass ich stellenweise blinzeln musste, um nicht blind zu werden. Doch erwartungsgemäß lässt trouble in paradise auch hier nicht lange auf sich warten. Alice muss feststellen, dass ihre prekäre Existenz zwischen der Sehnsucht nach Geborgenheit und ihrem Traum von einer Sängerkarriere in Monterey sowohl für ihren Sohn als auch für sie selbst untragbar wird…
Alles in allem ist das recht leichte Kost mit sehr guten Schauspielern in tollen, der Zeit entsprechenden Settings, eine durchaus sehenswerte Unterhaltung für einen verregneten Sonntagnachmittag, die jedoch aufgrund ihrer mangelnden psychologischen Dichte keinen massiven Eindruck hinterlässt.
USA 1974, Regie: Martin Scorsese
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