Fragmente der Einsamkeit – Kurzfilmrezension und Interview mit Jan Soldat

Von  //  2. Februar 2012  //  Tagged: , , , ,  //  Keine Kommentare

Der Nachwuchsregisseur Jan Soldat hat sich mit seinen schrägen Kurzfilmen nicht nur bei der HS-Redaktion einen Namen gemacht. Frau Suk hat Fragmente der Einsamkeit gesichtet und ein Mail-Pläuschchen mit Jan Soldat darüber gehalten.


Fragmente der Einsamkeit

Fast könnte man Fragmente der Einsamkeit als Titel für das Gesamtwerk von Jan Soldat verstehen. Seine Kurzfilme werden von verschrobenen Gestalten bevölkert, die nicht hineinpassen wollen in unsere Vorstellung von schöner heiler Welt. Wir grenzen uns von ihnen ab, aber vielleicht ist unser Befremden genau das, was sie von uns erwarten, etwas, das ihnen vertraut ist und das sie vielleicht sogar selbst provozieren und kontrollieren. Auch mit dem dokumentarischen Kurzfilm Fragmente der Einsamkeit lotet Soldat nicht nur die eingeschränkten Kommunikationfähigkeiten seiner Protagonisten aus, er vermisst zugleich die Breite des Grenzstreifens zwischen ihnen und dem Zuschauer.

Ein nicht näher identifizierbares Ich (es liegt nahe, dass es sich um „Ich, Jan Soldat“ handelt. Ich nenne es/ihn den „Erzähler“) macht sich auf die Suche nach Johannes Müller, einen Freund aus Kinder- und Jugendtagen. Johannes, vielleicht Anfang zwanzig, ist erst vor einiger Zeit aus dem Knast entlassen worden. Aus der Sicht des Erzählers, der sich gerne annähern möchte an den Freund und damit vielleicht auch an die eigene Kindheit, ist Johannes ein unnahbarer Typ; einer, der sich nicht einlässt, einer, der schnell die Karten an sich zieht, wenn man versucht hinein zu schauen. Der Erzähler und die Kamera begleiten Johannes bei einem Besuch in der inzwischen geschlossenen JVA, bei Treffen mit dem gehemmten Arne und ins Haus der verstorbenen Großmutter. Auch ohne Strafvollzug ist die Abwesenheit von Freiheit allgegenwärtig. Doch im Verlauf des Films lässt Johannes dann doch die Deckung fallen und unternimmt zarte Versuche, Kontakt aufzunehmen, zu Arne, zu seiner Großmutter, zur Welt. Aber es scheint, als käme er nicht heran, als befände sich immer noch eine Mauer zwischen ihm und allem anderen, als sei er gefangen in einem Screenshot aus einem fremden Film. Wenn Johannes jemanden trifft, Arne oder die Welt, ist es mit dem Luftgewehr.

Johannes’ Freund Arne, der krampfhaft um sich selbst kreist, berichtet knapp von seinen Zukunftsplänen, an die Uni will er. Bei Schießübungen im tristen Jugendzimmer erwähnt er, sein Vater sei Scharfschütze gewesen. Scharfschütze, ein beeindruckendes, mächtiges Wort, etwas, auf das man sich beziehen und womit man sich identifizieren kann, auch wenn man sonst nichts vorzuweisen hat. Dem weiß Johannes, der noch nicht mal ein Freak ist, nichts entgegen zu setzen, nichts eigenes, kein Jodeldiplom. Die einzige Verwandte, von der wir erfahren, die Oma, ist gestorben. Die Geschichte, ihre eigene und damit auch ein Stück weit die von Johannes, hat sie zuvor im dementen Zustand ausradiert. Sie hinterlässt nur mülltütenweise zerknülltes Zeitungspapier, das der Enkel zu einem Haufen aufschüttet, um sich selbst darin zu vergraben. Der großmütterliche Alzheimerwahn beschert der Dokumentation damit die ästhetisch ansprechendste und zugleich rührendste Szene. Das Standbild von Johannes’ Welt überlagert sich für wenige Momente mit den bis zur Auslöschung aller Konturen überbelichteten Erinnerungsbildern der Großmutter. Man hat kurz den Eindruck von Berührung, Geborgenheit, Zugehörigkeit. Das Relikt der Isolation der Großmutter trifft auf die Einsamkeit des Enkels trifft auf das Kontaktbedürfnis des Erzählers trifft auf den voyeuristischen Blick der Kamera. Doch letztlich widersetzt sich selbst das Vermächtnis der Oma, aussagefähig nur noch durch seine Gleichförmigkeit, der Aneignung; den Versuch, die Papierknödel zu verbrennen, muss Johannes abbrechen, um nicht zu ersticken.

Aber bei allem Befremden, das die Protagonisten beim Zuschauer auslösen: Sie reizen einen auch zum Schmunzeln. Wenn etwa Johannes und Arne gemeinsam Hanteltraining betreiben, sich über für den Zuschauer unsichtbare Muskelzuwächse und Gewichtsveränderungen unterhalten und sich danach einen Berg junggesellig zubereiteter Nudeln mit handgeschnitzten Salamistücken einverleiben, muss man sie belächeln. Und man lächelt und merkt: Ein bisschen so wie sie, diese Karikaturen einsamer Jugendlicher, war ich doch auch einmal. Durch diese Hintertür schleicht sich dann die Hoffnung. Immerhin: Es gibt jemanden, der Johannes’ Kinderbilder aufgehoben und in den Film montiert hat, es gibt jemanden, der ihm in seine Einsamkeit gefolgt ist, und es gibt jemanden, der sich das angesehen hat.

Deutschland 2012. Regie: Jan Soldat


Frau Suk:
Jan, als ich Fragmente der Einsamkeit sichtete, war ich zugleich abgestoßen und gefesselt von Johannes’ und Arnes Naivität, ihren linkischen Versuchen, etwas aus dieser unendlich tristen Situation zu machen und der daraus entstehenden (unfreiwilligen?) Komik. Ich kam fast ins Fremdschämen. Aber erzählt der Film damit nicht eigentlich mehr über mich als Zuschauerin als über die Darsteller? Denn über die erfährt man ja eigentlich gar nicht viel.

Jan Soldat:
Das ist schwer zu sagen mit dem Fremdschämen. Was genau bedeutet das für Dich? Dass Du Dich so nicht in solchen Situationen sehen möchtest? Oder meinst Du damit eher, Du schüttelst den Kopf über unsere Naivität? Ich schreibe bewusst „unsere“, weil ich mich einerseits extrem stark in dem Film spüre als Regisseur, aber das alles andererseits auch sehr viel mit mir zu tun hat. Also alles was da über die beiden erzählt wird, so bin ich auf irgendeiner Ebene in unterschiedlichem Maße auch. Deshalb schäme ich mich nicht, sondern idenfiziere mich die ganze Zeit.

Unangenehm, mit etwas Abstand, ist mir die Verbrennszene schon, weil man daran sieht, wie dumm wir eigentlich sind. Aber „naiv“ ist das bessere Wort. Denn die Konsequenzen habe ich ja gekannt, aber bewusst verdrängt. Ich sehe das als sehr pubertär, in einem doch positiven Sinne. Wir suchen unsere Grenzen, und wir finden sie und lernen daraus. Das ist widerum auch ein wenig naiv formuliert, denn erstens hätte das Haus abfackeln können, und zweitens hätte einem von uns was Schlimmes passieren können. Ich habe mich beim Rohmaterialsichten schon geschämt und war schockiert zu sehen, wie ich bzw. wir doch noch sind. Zugleich bin ich aber dankbar für die Erfahrung, da mir das jetzt noch bewusster ist.

Als ich Deine Rezension gelesen habe, habe ich mich sehr gefreut. Mich freut es, wieviel von dem ankommt, was ich da zeigen wollte, und dass es Dich berührt. Ich muss genauso schmunzeln bei vielen Szenen. Meine Regie-Dozentin Marie Wilke meinte, der Film habe eine Stärke darin, Situationen zu zeigen, die sich zwischen Leere, Gewalt und Sinnlosigkeit bewegen und dann fast ins Komische kippen. Das trifft es. Es war mir beim Dreh jedoch nicht direkt bewusst, dass der Film soviel Witz hat. Aber ich sehe ihn jetzt auch und freue mich darüber, weil wir ja auch so sind. Also dass unser Humor mit im Film steckt.

Schön fand ich den Satz von Dir über das Wort „Scharfschütze“. Das ist geil, das hab ich so noch gar nicht gedacht. Gefühlt aber schon. Also diese Faszination “ irgendwie krass zu sein“, die taucht immer wieder im Film auf. Was Krasses machen, reinhauen, etwas spüren. Das ist toll, und dieses Wort hat genau diese Macht und Anziehung, wonach Johannes verlangt.

Man erfährt nicht viel? Ich finde man erfährt sehr sehr viel über die Protagonisten, und das schreibst Du ja auch im Text. Vielleicht meinst Du mit dem letzten Satz Deiner Frage eher, dass einem die Filminformationen nicht vordergründig aufgedrückt werden. Aber es ist alles im Film. Bzw.: in Dir. Du kennst das scheinbar. Denn Du schreibst ja darüber.

Ich mag den Film, irgendwie hat das ja auch immer was Perverses. Damit meine ich meine Wahrnehmung dazu. Wie ein Alkoholiker, der seine Sucht nicht sieht, sehe ich meine eigenen Einsamkeit darin nicht. Zumindest nicht ihre Belastung an mir. Ich empfinde sie als positiv, weil ich sie über den Film erleben kann. Wenn das überhaupt das richtige Wort dafür ist. Aber ich erlebe über den Film nochmal mich und freue mich natürlich darüber. Du empfindest diese Hilflosigkeit und Leere als bedrückend. Ich als befreiend, weil ich sie auf diese Art erleben und zulassen kann. Bei vordergründig negativ besetzten Gefühlen, die viel mit Trauer und Schmerz zu tun haben, fällt mir das in der Realität immer sehr schwer. Aber solche Gefühle verdrängen ja die meisten viel schneller und lieber, anstatt sie zuzulassen. Film ist für mich eine Möglichkeit, dem ’nen Raum zu schaffen.

Auch finde ich interessant was Du über die Abgrenzung und das erwartete Befremden schreibst. Also entgegen dieser großen Sehnsucht der Protagonisten, akzeptiert und verstanden zu werden, gibt es ihnen eine Art Befriedigung, abgestoßen zu werden, nicht normal zu sein. Eine krasse Erkenntnis für mich. Es bestätigt die beiden in ihrer Unfähigkeit zu kommunizieren und wahre Nähe herzustellen. Es ist einfacher, isoliert zu leben, als Freak, und darüber wenigstens indirekt Aufmerksamkeit zu bekommen, als sich den eigenen Problemen zu stellen, sich selbst ins Auge zu sehen.  Das ist krass. Das kenne ich gut von mir. Diesen Rückzug und Abwehr erzeugen, weil es mir so schwer fällt Gefühle zuzulassen. Wirkliche Nähe an mich zu lassen. Da ist es einfacher, alle um sich durch sein eigenes Verhalten abzustoßen. Obwohl auch diese Abwehr eine Form Kontaktaufnahme und Suche nach Nähe ist, aber eben eine verqueerte.

Außerdem zeigt der Film, dass wir diese Obrigkeitsangst schon verinnerlicht haben und gleichzeitig versuchen, uns davon zu lösen. Also wir zeigen da schon eine Art Paranoia. Das benenne ich direkt am Anfang des Films, wo ich Angst habe, dass Johannes‘ Mutter uns dabei erwischt, wie wir im Haus mit den Gewehren schießen. Ich denke, dass der Film auch darauf hinausläuft. Nicht der Knast hat das mit Johannes gemacht, sondern der Grund liegt im Kinderzimmer. Deshalb mag ich auch die Kinderfotos am Ende so sehr. Johannes reagiert sich über den Film ab. Das ständige Schießen, diese Agression, die unterdrückte Wut. Dann schießt er seinen Kumpel an. Weil er ihn nervt? Aus Neid, weil er vielleicht bald studiert? Vielleicht aber auch nur, um mal zu wissen, wie das ist, wenn man auf ’nen Menschen schießt. Und dann endlich die ersehnte Ruhe. Johannes schläft. Er schaut uns auch nicht mehr an von den Fotos. Die Augen sind geschlossen. Er ist wieder Kind.

Bei der Einleitung des Films schaut Johannes mit sehr intensiven Blicken von den Fotos zu uns Zuschauern. Am Ende, nachdem wir ihn kennengelernt haben, er sich in seinem Wesen gezeigt hat, macht er die Augen zu. Und wird eben wieder zum Kind. Das finde ich toll, denn es ist im Leben auch oft so. Wenn all die Wut verpufft, kann man zu der Sensibilität darunter kommen, zu der Trauer, der Ruhe und der Einigkeit damit. Wenn es keinen anderen Weg mehr gibt, muss man das zulassen. Das ist natürlich mein persönliches Empfinden bei den Bildern. Deshalb hab ich das Ende auch lange als Happy End empfunden. Weil Johannes ein wenig zu sich kommt in dieser Erschöpfung. Aber das ist auch ziemlich verklärt von mir. Weil sich durch die vorangegangenen Taten ja neue Gewissensbisse und Probleme für ihn ergeben. Es wird also eigentlich schwieriger für ihn.

Frau Suk:
Zum Thema Fremdschämen: Nee, in Johannes’ oder Arnes Haut stecken möchte ich nicht. Aber sie triggern Gefühle in mir an, die ich von früher kenne. Ich glaube, was sie bei mir auslösen ist gar nicht so verschieden von dem, was Du ihnen (und Dir selbst) gegenüber empfindest, wenn Du die Aufnahmen siehst. Johannes und Arne scheinen in sich selbst gefangen zu sein, nicht heraus zu können aus einer Art selbstauferlegter Beschränkung, Einsamkeit, Isolation. Dazu gehört auch die coole Fassade, schießen, trainieren, schlaue Sachen über Zukunftspläne sagen, aber nicht zuviel über sich preisgeben. Wie Du schon sagst: Lieber verwunden, als sich selbst verwundbar zeigen. Wie die Jungs, die Mädchen an den Haaren ziehen, obwohl sie sie eigentlich streicheln wollen. Wenn ich Johannes und Arne beobachte, erinnern sie mich an eine Art Vorversion meiner Selbst, aus der ich (hoffe ich) herausgewachsen bin und mit der ich mich nur noch schwach identifiziere. Nur deswegen können sie überhaupt so etwas wie Scham in mir wecken: „Was? So soll ich auch mal gewesen sein? So verklemmt? So rührend cool?“ Wäre ich noch so wie früher, könnte ich vermutlich nicht so offen über meine eigene Reaktion auf den Film schreiben.

Die jetzige Eingangssequenz, in der Du mit Johannes in seinem Zimmer Schießübungen machst und Deine Angst davor äußerst, Johannes’ Mutter könne Wind davon bekommen, lese ich komischerweise ganz anders. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich die Szene schon fast verdrängt hatte, sie tritt im Verlauf des Films in den Hintergrund. Aber wenn ich sie jetzt noch einmal anschaue, sehe ich zwei ganz normale Jugendliche, die albern sind, was ausfressen und berechtigterweise ein schlechtes Gewissen haben (wenn auch kein besonders großes).

Hier kommt glaube ich die große Interpretationsoffenheit ins Spiel, die der Film mitbringt. Du siehst in der Angst vor der Mutter internalisierte Obrigkeitsfurcht, ich lese daraus, dass Johannes doch nicht ganz so auf sich gestellt ist, wie der Rest des Films es andeutet. Mich erleichtert das ein bisschen. Allerdings steht und fällt meine Erleichterung mit der Einsortierung der Szene in die Chronologie. Wenn ich den Eingang in Gedanken hinter die Knastzeit hänge, trägt sie eine gewisse Leichtigkeit in den Rest hinein. Wenn ich sie aber vor die Knastzeit packe, bleibt unklar, ob es solche Momente auch nach der Haft noch gibt.

Für mich sind genau diese Lücken das Charakteristische und Spannende an Deinen Fragmenten. Viele Zusammenhänge entstehen erst im Kopf des Betrachters. Genauso ist es mit der Schlusssequenz. Man könnte sie auch so lesen, dass Johannes sich in den kindlich-unschuldigen Zustand vor dem „Fall“, vor der persönlichen Verantwortung für das eigene Handeln zurück träumt, aber letztlich bleibt er der Typ, der die Idylle selbst durch seine Schüsse stört. Aber auch das ist alles Interpretation.

Ist es eigentlich seltsam für Dich, wenn andere Deine Filme anders auslegen als Du selbst? Immerhin gibst Du dem Zuschauer viel Spielraum dafür.

Jan Soldat:
Nein, ich finde das toll. Und sehe mich auch noch nicht dazu im Stande einen Film so zu drehen, dass er 100% das ist, was ich meine. Dazu fehlen mir noch einige Erfahrungen. Ich find das immer wieder interessant, was ich im Nachhinein über den Film erfahre und letztendlich über mich selbst und meine Art Filme zu machen. Das gefällt mir. Aber die Offenheit und Reduktion in meinen Filmen ist auch oft Angst vor Offensichtlichkeit und größeren wärmeren Gefühlen. Da verstecke ich mich sehr oft hinter den Bildern.

„Aber letztlich bleibt er der Typ, der die Idylle selbst durch seine Schüsse stört.“ Das find ich schön gesagt. Johannes Widerstand hat für mich immer in diesem Schlussbild gesteckt. Vor allem aber war es für mich das Kontrastbild zu den Schüssen in der Zelle. Der Fakt, dass Aggression in geschlossenen Räumen lauter wirkt, viel gefährlicher. In der Lebendigkeit der Natur verpufft diese Intensität, das Schießen wirkt viel hilfloser. Aber gleichzeitig verstummt das Natürliche/Lebendige unter Johannes’ redundanter Wut. Der Wind wird still und die Blätter hören auf zu Rauschen. Das fand ich schön; mehr intutitiv. Das ist im Bauch, nicht direkt im Kopf. Deshalb bin ich da auch offen für die Interpretationen.

Frau Suk:
Hm, Du sprichst oft von Johannes’ Aggressionen. Aber das Schießen mit dem Luftgewehr ist doch eigentlich eine recht harmlose, kanalisierte Form der Aggression. (Wenn man mal von der „Attacke“ auf Arne absieht, und selbst die provoziert keine richtige Gegenwehr, keinen Eklat, keine Konsequenzen.) Johannes ist ja kein Schlägertyp. Den Reiz des Unberechenbaren bekommt die Sache doch erst durch die Information, dass er eingesessen hat. „Gefängnis“ ist immerhin ein ähnlich mächtiges Wort wie „Scharfschütze“. Wie groß ist die Rolle, die Du der „JVA-Aura“ in Bezug auf die Charakterisierung von Johannes zuschreibst? Und war von Anfang an klar, dass Du den Grund für seine Verurteilung nicht erwähnen würdest?

Jan Soldat:
Genau das ist es ja. Das Unterdrückte. Das was man nicht sieht, nicht fassen kann. Unwissenheit ist für mich oft Bedrohung, dadurch, dass ich eine Sache nicht kenne, nicht weiß, was da auf mich zukommt. Von Johannes geht eine Bedrohung aus gerade dadurch, dass man nicht so viel erfährt. Von dieser Art Aggression rede ich. Oder anders herum: Jede Depression ist unterdrückte Aggression. Das seh ich in dieser Figur. Aggression heißt ja nicht gleich, dass der total durchdreht und direkt zuschlägt oder tötet. Ich meine damit eher das vorhandene Zerstörungspotenzial. Und das muss sich ja nicht mal gegen andere wenden. Bei der Teampremiere vom Film sagte eine Freundin von mir, sie hätte Angst vor Johannes. Auch diese Energie meine ich damit. Irgendwas nicht direkt Greifbares, das ihn umgibt und das der Film in seiner Stimmung zu vermitteln sucht.

Und die ausgelassene Information zur JVA potenziert das zusätzlich. Was ich gut finde, denn man kommt dadurch Johannes näher, weil man wissen will. Man wird in ihn gedrückt, wenn man sich drauf einlässt, trotz der Distanz. Ja, das war mir gleich beim Dreh klar, dass ich das weglassen muss! Ich hab ein zwei unbeholfene Frage zur Knastvergangeheit gestellt und sofort gemerkt, dass das albern wirkt. Dass wir dafür keine Worte finden werden, die man glaubt.

Frau Suk:
„Worte, die man glaubt.“ Damit gibst Du mir für die letzte Frage natürlich ein Stichwort in rotem Fettdruck. In der vorherigen Schnittfassung war die Grenze zwischen Fakten und Fiktion viel weniger deutlich, und man kam stärker ins Zweifeln, welchen Status das Gezeigte nun hat bzw. haben soll. In der Endfassung sind die Lücken, die der Zuschauer durch Assoziationen, eigene Erfahrungen und Interpretationen schließen muss, zwar noch genauso groß, aber Du steuerst stärker, womit man die Fugen ausstopft. Das Dokumentarische tritt in den Vordergrund. Beides hat seinen Reiz. Bei der ersten Variante regt der Film stärker dazu an, sich nach der Natur dokumentarischen Materials im Allgemeinen zu fragen, er provoziert also eine intellektuelle Auseinandersetzung. In der jetzigen Fassung liegt der Fokus stärker auf den Charakteren und ihre Lebensumständen und löst damit eher eine emotionale Reaktion aus (Wie weit kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren? Welche Widerstände oder Abwehrreaktionen zeige ich bei der Rezeption? Usw.). Hast Du bewusst abgewogen, wohin das Ganze kippen soll? Wie wichtig ist Dir, dass man das Gezeigte als authentisch wahrnimmt?

Jan Soldat:
Für mich war entscheidend, dass es freier wird und glaubhafter. Und nicht, dass ich dem Zuschauer zuviel aufdrücke, bei dem ich Gefahr laufe, dass er es nicht glaubt. Ist ja auch egal, ob ich benenne, dass Arne, Johannes Freund, im Knast war. Die Info ist nicht wichtig. Die Beziehung zwischen den beiden ist wichtig. Ohne den Fakt ist es echter. Dass ich damit den Grad zum Dokumentarischen verschiebe, wird mir jetzt erst klar.

Dass meine Filme als authentisch wahrgenommen werden, ist mir schon immer extrem wichtig gewesen. Dahingehend war der Film ein Experiment, also das Dokumentarische und Fiktive für mich soweit zu vermischen, dass es an sich egal wird, was der Film nun ist. Aber genau so mag ich es, wenn man immer wieder stutzt, was nun real, authentisch, erfunden, gelogen usw. ist. Weil man dann in Frage stellt und darüber auch mehr versteht.

Entscheidend ist die Wirkung, und da ist der Film für mich durch und durch wahr, in all seinen Aussagen die er trifft über Johannes, mich, Chemnitz, das Gefühl, gefangen zu sein. Und da ist es egal, ob Johannes nun wirklich im Knast war. Warum er im Knast war?! Und, dass ich eigentlich Schuld bin, dass er im Gefängnis war.

Frau Suk:
Ich danke Dir für das Gespräch!


Flattr this!

Über den Autor

Bianca Sukrow, geb. in Aachen, ist Literaturwissenschaftlerin, Mitgründerin des Leerzeichen e.V., freie Lektorin und Journalistin. Im persönlichen Umgang ist sie launisch, besserwisserisch und pedantisch.

Alle Artikel von

Schreibe einen Kommentar

comm comm comm