Ihr Name ist Sabine
Von Silvia Szymanski // 14. Januar 2012 // Tagged: Dokumentation, Seltsame Frauen // 9 Kommentare
„Kann ich diese Puppen in die Truhe tun? Ich habe Angst, dass ich sie in den Pisstopf werfe.“ (Sabine Bonnaires Reaktion auf ihr Geschenk zum 38. Geburtstag klingt wie ein Gedicht von Kurt Cobain.)
Das wird die letzte Filmdokumentation über „Autismus“ sein, die ich mir angesehen habe. Und das ist nicht ihre Schuld, sondern ihr Verdienst.
Ich will nichts mehr weiter sehen über die in unserer Gesellschaft herrschende, bescheuerte Bereitschaft, sich selbst oder andere für psychisch krank zu erklären und mit Tabletten zuzurichten, sobald man entdeckt, dass eine Seele schmerzhaft von der Norm abweicht. Das tut die Seele nämlich immer, weil die Norm so völlig scheiße ist. Sabine hat das Pech, so weit abzuweichen, dass sie nirgends mehr rein passt. Ich weiß da keinen Ausweg, aber DAS kann es auch nicht sein. Ohne es so zu hysterisieren wie ich jetzt, zeigt dieser Film ein herzzerreißendes, schreiendes Elend und Unrecht.
Sabine Bonnaire ist die Schwester der Autorin dieses Films, der Schauspielerin Sandrine Bonnaire. Bei den familiären Super8-Aufnahmen (wie Sabine weint, als sie sie nach vielen Jahren wieder ansieht!) waren die beiden elfenhaft schöne, junge Mädchen, lachend im Urlaub am Meer. Sabine hatte ein etwas verstört umwölktes Mona Lisa Gesicht und war seltsamer als ihre Schwester, aber im Leben mit ihrer Familie war sie nicht unglücklich. Sie konnte in die Klasse ihrer Schwester gehen (wo sie jedoch gemobbt wurde), sie konnte gut Klavier spielen, Mofa und alleine mit der Bahn nach Paris fahren und mit der geliebten Schwester nach Amerika fliegen.
Und dann, niemandes Schuld, ging das mit der Familie nicht mehr, man zog um, Schwester zog weg, Sabine geriet in eine Krise und kam für 5 Jahre in die Psychiatrie. Danach war sie ein Wrack. 30 kg schwerer, inkontinent, retardiert, schwach, zittrig, sie konnte sich nicht mal mehr selber waschen. Und so blieb das.
Vergleiche zwischen Früher und Heute fallen oft zugunsten der Vergangenheit aus, das Älterwerden verformt fast alle. Aber SO? Sabines transparente Schönheit, als sie noch von der Psychiatrie ungeschoren war – und dann das völlig kaputte Körpergefühl, der stumpfe, leere, Blick, die gequälten Schreie – wie man es auch drehen und wenden mag, um Verständnis auch für die medizinischen Einrichtungen zu haben: Es ist zumindest offenkundig, dass man ihr dort nicht im Geringsten geholfen hat. Vielleicht wäre sie auch ohne Behandlung unglücklich geworden, aber bewiesen ist, dass sie MIT den Behandlungen unglücklich wurde. Sie war und ist suizidgefährdet, und warum sollte sie auch leben? Alle Gründe anderer fallen für sie weg, seien es Abenteuer oder Arbeit, Freiheit oder Verpflichtungen, Hobbys, Neugier, Liebe, Tiere, Kinder…
In ihrem heutigen Zuhause, dem ländlichen Pflegeheim, wo große Teile der Doku gedreht wurden, wird sie um 21 Uhr eingeschlossen. Ihre emotional distanzierten, desinteressierten, dauernd sie bevormundenden Pfleger bestehen auf die rigorose Einhaltung der Regeln. Ernst und vorwurfsvoll wird so ein Blödsinn diskutiert wie wieviel Nachspeise jemand nehmen darf. Die Gespräche sind banale Fragen und Antworten, die keine der beiden Seiten interessieren. Als Sandrine sich verabschiedet, sagen sie ihr strikt, gereizt und schnippisch: „Sie fährt heute weg. Da hilft kein Spucken und kein Schreien!“ Ich würde da auch durchdrehen.
Es gibt da einen Jungen, Olivier, der immer einen Helm trägt, weil er oft hin fällt oder sich fallen lässt. Dann stehen sie um ihn herum und warten mit kühl beherrschter Genervtheit. Diese Menschen, die den ganzen Tag um ihn sind, haben ihn nicht lieb. (Schon klar, auf den Arbeitsstellen der „Gesunden“, manchmal auch in den Familien, ist das oft auch nicht anders.) Wie Sabine, so muss auch Olivier starke Medikamente nehmen. Seine Mutter, die ihn liebt und sich wegen seiner Abschiebung in dieses Heim schuldig fühlt, nahm mal aus Versehen seine Morgendosis statt ihrer Vitamine und schlief daraufhin 30 Stunden an einem Stück. „Wenn man sieht, was sie einnehmen, versteht man ihre verlangsamten Bewegungen“, sagt sie. „Ich merkte auch, dass meine intellektuellen Fähigkeiten auf Null waren. Ich kapierte nicht mal, was im Fernsehen lief.“
„Fick dich, Monsieur!“ schreit Sabine bei einem Ausflug einen Passanten an, man ermahnt sie, und sie brüllt, sich korrigierend: „Fick dich nicht!“ Das wiederholt sie, als sie sich am Abend schlafen legt, um sich das vermeintlich richtige Verhalten einzuschärfen. So übt sie auch „Du bist keine Nutte, keine blöde Kuh, du bist meine Schwester“, während der von den Pflegern erzwungenen Mittagsruhe am letzten, kostbaren Tag des schwesterlichen Besuches. Später wird sie sie süchtig in den langen Haaren Sandrines schwelgen, als sie sie zu fassen kriegt, und dann wird der Schmerz sie wieder packen, und sie wird anfangen, an ihnen zu zerren und zu weinen. Und Sandrine wird sauer sein und sie ermahnen, weil ihr das wehgetan hat. Und natürlich geht das alles so wirklich nicht, ich meine das nicht sarkastisch; Sandrine kann ihre 38-jährige Schwester wirklich nicht durch das Leben tragen; es ist auch für „Gesunde“ schon unendlich schwer, in dieser Welt für sich zu sorgen und Dinge in die Truhen und nicht in den Pott zu tun.
Frankreich 2007, Regie: Sandrine Bonnaire
Ihr Name ist Sabine bei realeyz.tv online ansehen
(1,90 € zzgl. Payment Gebühr)
9 Kommentare zu "Ihr Name ist Sabine"
hej ihr, wo habt ihr denn “ der tag der in der handtasche verschwand“ genau gesehen?
Hey Marion, wo genau: Auf jeden Fall im Fernsehen. Auf welchem Sender weiß ich allerdings nicht mehr.
Genau. Lief im TV. Wo genau erinnere ich ebenfalls nicht. Ist ja jetzt auch schon wieder etliche Jährchen her, dass ich den Film und wir uns gesehen haben.
Ein grundlegendes Problem moderner Zeiten : das Zurichten von Seelenleben ; tiefgehender Film von sylvia sehr einfühlsam beschrieben ; und die Frage : Gibt es einen Ausweg ? unbedingt anschauen! greetz bruno
Wir tun uns wohl nicht nur mit Dokus schwer, die sogenannt psychische Leiden beleuchten. Ich war neulich drauf und dran, mir den Schweizer Dokumentarfilm „Chrigu“ (2007) im Hinblick auf eine Besprechung zu beschaffen. Es geht in diesem hervorragenden Film, den ich schon im Schweizer Fernsehen sah, um einen lebenslustigen jungen Mann, in dessen Nacken ein fortgeschrittener Tumor entdeckt wird. Er entschliesst sich, seinen Umgang mit der tödlichen Krankheit bis zum Ende von einem Freund filmen zu lassen. Ein lohnenswertes Werk, vor dem ich jedoch regelrecht zurückschreckte. Seltsam: Es fällt uns so leicht, derartige Geschichten anzunehmen, wenn sie als fiktive daherkommen…
Ich habe die Dokumentation auch gesehen. Bin zufällig reingestolpert, und da ich Dokus selten widerstehen kann, bin ich hängengeblieben. Ich habe ganz anders darauf reagiert als Du. Mich hat der Film überhaupt nicht erschreckt. Im Gegenteil, ich fand das Umgehen des jungen Mannes mit seiner Krankheit phasenweise regelrecht erhebend. Es war so viel mehr Leben darin als Tod, das fand ich tröstlich. Aber die Rezeption solcher Filme ist vermutlich auch sehr davon abhängig, in welcher Situation und Lebensphase man sich gerade selbst befindet.
Grüße
Frau Suk
Schwerer Fehler meinerseits, “Der Tag, der in der Handtasche verschwand” hat wirklich nichts mit Autismus sondern was mit der Alzheimer Erkrankung zu tun. War mir zwischenzeitlich auch wieder eingefallen. Aber JMK war schneller.
„Der Tag, der in der Handtasche verschwand“ hat doch aber nichts mit Autismus zu tun. Ist aber natürlich sehr sehr sehenswert. Ihr Name ist Sabine steht schon seit Jahren auf meiner to do-Liste, aber ich kam einfach nicht dazu.
Jetzt, wo ich die Rezension lese, erinnere ich mich wieder daran Ausschnitte aus dem Film gesehen zu haben. Heftig. Aber das mit „die letzte Doku“ würde ich mir noch mal überlegen. „Der Tag, der in der Handtasche verschwand“ ist schon sehr sehenswert und es wäre schade, wenn du dich dem verweigern würdest.