DVD: Unmoralische Geschichten (Contes immoraux)
Von Frau Suk // 10. Dezember 2011 // Tagged: Erotik, französischer Film, Historienfilm, Skandalfilm // Keine Kommentare
Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich bei Unmoralische Geschichten (Contes immoraux) um einen Episoden-Erotikfilm. Vier sehr unterschiedliche Sequenzen hängen scheinbar verbindungslos hintereinander: In Kapitel 1 begleiten wir Cousin und Cousine an den Strand, wo die beiden den Zusammenhang zwischen Flut und Ejakulation erkunden. Kapitel 2 portraitiert die junge Thérèse, die genau so innig betet wie masturbiert. Kapitel 3 ist den lesbischen Gelüsten der ungarischen Blutgräfin Elisabeth Báthory gewidmet und Kapitel 4 den inzestuösen Ausschweifungen Lucrezia Borgias. In Bezug auf die dargestellte Epoche sind die Geschichten antichronologisch angeordnet. Borowczyk und seine Darsteller widmen sich allen vier Episoden mit Gefühl und gestalten mit Bedacht die von Kapitel zu Kapitel deutlich variierende Stimmung. Hier liegt dann auch die Verbindung zwischen den einzelnen Episoden; in der liebevollen Annäherung des Regisseurs an seine Stoffe, die er von lästiger Geschichtstreue entbindet und ganz Geschichten sein lässt. Neben der ruhigen, konzentrierten Erzählweise sind allen vier Geschichten eine gewisse Artifizialität sowie die Lust an Details gemeinsam; ein hübscher Mund hier, ein scheinbar zufällig vorhandenes bisschen Nippes/l da, ein vielsagender Blick dort.
In der ersten Episode begleiten wir Cousin André (Fabrice Luchini) und Cousine Julie (Lise Danvers) an den Strand. La Marée hat die gleichnamige Kurzgeschichte von André Pieyre de Mandiargues zum Vorbild. Im Gegensatz zu den Folgeepisoden spielt sie fast die ganze Zeit über draußen, in der Natur. Die Bilder erinnern an Wakefield Pooles Boys in the Sand. Auch La Marée spielt in einer Zwischenwelt zwischen Land und Wasser, hier und dort, damals und jetzt. Doch deutlicher als Boys in the Sand zeigt La Marée, dass die Zwischenwelt nicht nur ein Ort des Verschmelzens ist, sondern auch ein Ort des Sich-Aneignens fremden Terrains und letztlich des Auseinanderdriftens. Dies geschieht vor allem durch die herrische Sprache Andrés, die angesichts der unbeeindruckten Natur so klein und gestelzt wirkt und angesichts der lieblichen Julie so borniert und garstig. Der (wie der Vorspann verrät) 20jährige Cousin überredet seine vier Jahre jüngere Cousine dazu, ihn oral zu befriedigen. Er plant, genau auf der Höhe der Flut zu ejakulieren. In einer lehrerhaften Vorrede erklärt der André Julie den Zusammenhang zwischen den Gezeiten und dem Herauszögern der Ejakulation, alles genau getimt, alles unter seiner Kontrolle. „Kann er nicht einfach stumm mit ihr kommunizieren? Kann er nicht die Neugier Julies mit dem befriedigen, was sie erfahren will?“, fragt man sich. Aber vielleicht nicht, denn dann hätte die Cousine keinen Grund, den Spieß umzudrehen und ihrerseits Kontrolle über ihn auszuüben durch die Macht ihres Mundes.
Die zweite Episode spielt im 19. Jahrhundert und zeigt die unbedarft-kindliche Thérèse (Charlotte Alexandra), die sich nach der Messe selbstvergessen mit dem Kircheninventar beschäftigt. Von einer mürrischen Verwandten wird sie anschließend beschuldigt, über die Dauer ihres Aufenthalts in der Kirche gelogen zu haben. Thérèse wird in ihr Zimmer eingesperrt, wo aus leidenschaftlichem Beten ebenso leidenschaftliche Masturbation wird. Thérèse scheint von einer naiv-inbrünstigen Sehnsucht nach Durchdringung und Gefühlsintensität getrieben zu sein, religiös und sexuell. Sie lässt sich sowohl durch die Lektüre ihres Gebetbuchs anregen, als auch durch die Illustrationen aus dem pornographischen Roman Thérèse Philosophe von 1748, auf den die Episode nicht nur durch den Titel verweist. Sowohl Thérèse als auch die Kamera zeigen eine ausgesprochene Vorliebe für Objekte; Säulen, Orgelpfeifen, Kinderspielzeuge, religiöse und erotische Darstellungen, Gurken bzw. Zucchini – alles wird in der Hand Thérèses zum Fetisch.
Bemerkenswert an dieser Episode ist die ironische Klammer, mit der Borowczyk die Klausurszene im Mädchenzimmer umfasst. Zu Episodenbeginn ist zu lesen, die fromme Thérèse H. solle heilig gesprochen werden, weil sie von einem Landstreicher vergewaltigt worden sei. Der Vergewaltiger taucht am Ende der Geschichte tatsächlich auf. Thérèse büchst aus und läuft vergnügt auf eine sonnenbeschienene, idyllische Blumenwiese. Dort wartet bereits ein betagter Typ, der ihr unbeholfen nachstellt (den Namen des Schauspielers konnte ich nicht ermitteln, vielleicht kann jemand aushelfen?). Genau wie die mürrische Verwandte und auch Thérèse selbst wirkt der alte Vergewaltiger komisch überzeichnet, wie im Bauerntheater. Es scheint kaum glaubwürdig, dass die agile junge Thérèse dem plumpen Kerl nicht entliehen kann. Tatsächlich ruft sie bei ihrer Ergreifung etwas, das sich verdächtig nach „Oh God!“ anhört (die Darstellerin Charlotte Alexandra ist Engländerin, der Ausruf klingt in der deutschen und französischen Tonspur gleich) und lässt sich fallen. Wieder werden sexuelle Erregung und religiöser Eifer verquickt. Ob es sich bei der folgenden Tat wirklich um eine Vergewaltigung handelt, scheint mir fraglich; Anlass für Thérèses Heiligsprechung ist also nicht ihre religiöse Inbrunst, sondern die sexuelle. Unterstützt wird mein Eindruck durch die grandios komische letzte Einstellung, in der eine Kuh sich kurz nach dem Geräusch umsieht und dann ungerührt weiter grast.
Die beiden letzten Episoden sind „historischen“ Stoffen gewidmet. Historisch deswegen in Anführungszeichen, weil schon den Überlieferungen eher Legendenstatus zukommt. Borowczyk ordnet in beiden Episoden die Fakten der Fiktion unter und vereint die schillerndsten, sinnlichsten und grausamsten Mythen zu zwei weiteren außergewöhnlichen Frauenportraits. Episode drei zeigt die legendäre Erzsébet/Elisabeth Báthory, die Blutgräfin (bezaubernd: Paloma Picasso, die nicht groß spielen, sondern nur gut aussehen muss), die gemeinsam mit ihrer androgynen Gespielin („Knappe“ Istvan, gespielt von Pascale Christophe) in einem Dorf Kandidatinnen für ein gemeinsames Bad auswählt. Die auserkorenen Mädchen nehmen wohlgemerkt nur tropfenweise an der Körperpflege der Gräfin teil, die Báthory ist nämlich davon überzeugt, dass das Bad im Blut junger Frauen die eigene Haut frisch hält.
Wie Thérèse Philosophe vermittelt auch Erzsébet Báthory eine fetischistische Lust an Preziosen aller Art, zugleich ist diese Episode die beklemmendste von allen. Der Betrachter folgt dem fachkundigen Blick der Gräfin, die bei der Fleischbeschau Brüste, Hauttexturen und Proportionen ihrer potentiellen Blutspenderinnen begutachtet. Man ergötzt sich an dem Kontrast zwischen dem einfachen Dorf mit seinen derben, faltigen Dorfbewohnern und dem luxuriösen Grafenburginterieur, den edlen, hauchfeinen Kleiderstoffen, den wohlproportionierten Mädchen, der anmutigen Hausherrin und der entzückend burschikosen Dienerin. Man will anfassen, was man dort sieht: Die kraftstrotzenden Kohlköpfe, das Stroh, die Spitze, die Perlen, die Haut, auch wenn – oder gerade weil? – alles ganz unmittelalterlich sauber wirkt (die Dreck-und-Schweiß-Ästhetik wurde wohl erst in späteren Mittelalterfilmen erfunden). Gleichzeitig ist einem die Grausamkeit des Ganzen bewusst, denn dass die Mädchen die Burg nicht lebend verlassen werden, muss sich auch Zuschauern aufdrängen, die die Legende der Blutgräfin nicht kennen. Der Verweis auf den Holocaust, die in Unkenntnis der bevorstehenden Gräuel in der Dusche versammelten nackten Mädchen, ist deutlich, auch wenn Borowczyk das eigentliche Schlachten nicht zeigt. Die Episode kulminiert in einer grausam-orgiastischen Szene, in der die dem Tod geweihten Mädchen sich um einen Fetzen vom Glanz der Gräfin reißen, bis die Gespielin dem Treiben mit dem Schwert ein Ende bereitet und der Herrin das Bad richtet. Die Kaltblütigkeit der Gräfin wird durch die monoton-harmlose Mittelalterklingelei im Hintergrund noch verstärkt, selbige geht einem aber auch irgendwann ein bisschen auf den Keks.
Last and probably least begleitet die Kamera Lucrezia Borgia (Florence Bellamy) zu ihrem Vater, Papst Alexander VI. (Mario Ruspoli alias Jacopo Berinizi), und ihrem Bruder, dem Erzbischof Cesare (Fabrizio Ruspoli alias Lorenzo Berinizi). Aus meiner Sicht ist diese letzte Episode ästhetisch die schwächste, auch wenn es sich um die skandalträchtigste der vier Geschichten handelt. Abwechselnd zeigt Borowczyk den Papst und seine Kinder bei der inzestuösen Familienzusammenführung und den Bußprediger Girolamo Savonarola (Philippe Desboeuf) beim Wüten gegen die Exzesse des Klerus. Wieder werden Sexualität und Kirche verquickt, hier wird allerdings anders als bei Thérèse Gott nicht zur Party eingeladen. Florence Bellamy mimt eine kokette, hochmütige und leicht überdrehte Lucrezia Borgia, Ruspoli und Ruspoli schmierig-notgeile Kirchenmänner. Gerade das unterstützt den Film inhaltlich enorm. Die Überheblichkeit dieser Leute, die Dekadenz des Klerus, widert einen an. Soll es auch. Bei mir hat es allerdings auch den Effekt, dass ich dieser unsympathischen Lucrezia und ihren ebenso unsympathischen Verwandten nicht lange zuzuschauen mochte und mich das einzige Mal bei der Sichtung ein wenig gelangweilt fühlte.
„Letzte Episode“ ist eigentlich gar nicht korrekt, denn es existiert noch eine weitere, La veritable histoire de la Bête du Gevaudan, um die Borowczyk die Kinofassung der Contes immoraux beschnitt. Später ging sie in La Bête auf. Wer neben dem auch in der normalen DVD-Fassung von Bildstörung enthaltenen einleitenden Kurzfilm Une collection particuliere auch diese Episode sehen möchte, muss sich die limitierte Special Edition anschaffen. Dieser liegt eine Bonusdisc bei, auf der die rekonstruierte Langfassung des Films enthalten ist. Trotz der fehlenden fünften Episode (und trotz des kitschigen Menüs) ist auch die Standard-DVD toll gemacht und mit reichlich Bonusmaterial ausgestattet. Das beiliegende Booklet mit Texten von Daniel Bird enthält zahlreiche Hintergrundinformationen. Schön, dass nach Jahrzehnten auf dem Index die Contes immoraux nun wieder zugänglich sind.
Frankreich 1974, Regie: Walerian Borowczyk
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