NEDS – Non Educated Delinquents

Von  //  10. April 2011  //  Tagged:  //  Keine Kommentare

Non Educated Delinquents - Connor McCarron als John.

NEDS (Non Educated Delinquents > etwa: Ungebildete Kriminelle) erzählt die Geschichte einer Jugend in Glasgow. Sie beginnt in den frühen 1970er Jahren und endet etwa zehn Jahre später. Peter Mullans neuen Film im Original zu sehen, ist schon an sich eine Herausforderung. Man versteht praktisch kein Wort. Das Glasgower Idiom ist so brachial, dass es noch nicht mal von Engländern verstanden wird (warum manche englische Kritiker auch englische! Untertitel begrüßt hätten). Aber gerade die teilweise ans degenerierte grenzende Ausdrucksweise (ja, so viel versteht man schon) der Charaktere steht für deren Klassenbewusstsein, ihre Gang-Zugehörigkeit, ihre Identität. Die „Sprach-Gewalt“ bleibt eine der Ebenen, die im Film durchgängig funktioniert.

Der verschlossene aber intelligente John hat es nicht leicht. Der Vater ist ein gewalttätiger Alkoholiker, die Mutter machtlos. Johns älterer Bruder Benny ist bereits ein NED und Mitglied einer Strassen-Gang. Die ältere Schwester hat sich als Einzige aus diesem Umfeld „befreit“ und lebt inzwischen in Amerika, ist aber gerade zu Besuch, als John kurz vor dem Schulwechsel steht. Sie ahnt nichts von der Gewalt in- und ausserhalb der Familie, die sehr bald Johns tägliche Routine sein wird. Obwohl er in der neuen Schule von seinen Lehrern drangsaliert wird, beisst er sich durch. Zehn Jahre später schließt er – als einer der Besten seines Jahrgangs – das Schuljahr ab. Es beginnen die Sommerferien, die für John alles verändern.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Film konventionell und mit deutlichen Anleihen an Filme wie Kes (Ken Loach, 1969) oder Linsay Andersons If…. (1968) erzählt. Die Parallelen in der Darstellung des rigiden, englischen Schulsystems bieten sich an. Die Zeit wird präzise und ohne jegliche falsche Romantik eingefangen.
Aber zurück zur Handlung: Durch die Verkettung mehr oder weniger geringfügiger Vorfälle (John erfährt sehr unverblümt von der Mutter eines Freundes, dass er nicht mehr in dessen Nähe erwünscht ist und wird kurze Zeit später von einer Straßen-Gang belästigt) dreht sich etwas in Johns Psyche. Als die Gang-Mitglieder erfahren, dass sein Bruder der berüchtigte Benny ist, lassen sie von ihm ab und er freundet sich mit ihnen an. Mitglied einer Gang zu sein, erscheint ihm plötzlich als sehr attraktiv.
Nach den Ferien kommt John als ein andere Junge zurück. Er kommt zu spät zur Schule, er wird zum Provokateur, schließlich zum Schläger und Messerstecher. Er mutiert zu einer brutaleren Variante seines brutalen Bruders. Die Gewaltausbrüche, die Gang-Riots, die teilweise in Johns Fantasie abgleitenden Episoden – das alles wirkt in einzelnen Szenen explosiv und aufgrund der Unvorhersehbarkeit spannend, manchmal aber auch enervierend zusammenhanglos.

Es gibt Szenen extremer Gewalt, wie eine Schlägerei auf einer Brücke, die von Mullan mit dem schönen Schlager „Dancing Cheek to Cheek“ unterlegt wird. Das ist großartig, das übersteigert das absurde Element dieser hoch-ritualisierten Attacken derart, dass man Lachen muss, während jemandem der Schädel eingetreten wird und das ist beabsichtigt. „When things are really painful, I turn it into comedy“ wird Mullan dazu auf dailyrecord.co.uk. zitiert. Das geht in Ordnung. Das muss man abkönnen. Aber oft entgleitet ihm der Stoff, führt in dramaturgische Einbahnstrassen, aus denen er sich dann mühsam zurück kämpft. Das ist ermüdend und macht keinen Spaß. Skurrile Einfälle, wie ein vom Kreuz steigender Christus, werden zu Tode geritten. Vieles bleibt zu bruchstückhaft. Vieles ist redundant. Filmisch wird Mullan hier unscharf. Zusammen gehalten wird das Ganze nur von der schauspielerischen Leistung von Connor McCarron, der den älteren John verkörpert. Er trägt den Charakter auch durch die absurdesten Regie-Einfälle, und das in seiner gerade mal allerersten Rolle.
McCarron ist in NEDS eine Idealbesetzung, da er als stoischer, pausbackiger Typ nicht gerade den klassischen Jung-Kriminellen vorstellt und somit kaum als Identifikationsfigur funktioniert. Auch dadurch versucht Mullan zu vermeiden, dass NEDS zum Kultfilm von Street-Gangs wird. Eine nicht unbegründete Befürchtung, wenn man bedenkt, dass die Polizei während der Aussendrehs massiv Absperren musste, um Jugendliche daran zu hindern sich in das vermeintliche Kampfgeschehen einzumischen. So viel zur Authentizität des Films.

Immer tiefer in die Irrungen und Wirrungen der inzwischen schwer beschädigten Psyche des Protagonisten geht die abschüssige Fahrt, an deren Ende John zur beängstigend todesverachtenden Kampfmaschine wird, die vom eigenen Vater mit dessen Hinrichtung beauftragt wird. Kaum wagt man noch auf einen glücklichen Ausgang der Geschichte zu hoffen, den man sich inzwischen sehnlichst herbei wünscht, weil man noch mehr Terror nicht ertragen möchte.

Nicht unbedingt ein Film, von dem ich erwarte, dass er mir wirklich ans Herz wächst. Ich glaube auch nicht, dass eine zweite oder dritte Sichtung viel von dem relativieren wird, was ich an Kritik geäussert habe. Aber er ist dennoch unbedingt zu empfehlen. Englisches Independent-Kino, das polarisiert.

Falls NEDS , der dankenswerter Weise dieser Tage beim MADE IN EUROPE FILMFESTIVAL in Maastricht zu sehen war, einen Kinostart in Deutschland bekommnt, sollten Freunde von Mullans letztem, mehrfach ausgezeichneten Film The Magdalene Sisters (2002) unbedingt ihre Erwartungshaltung an der Kinokasse abgeben. NEDS ist,… anders.

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Über den Autor

Eckhard Heck besitzt eine der umfangreichsten Baustellen-Sammlungen Nordrhein-Westfalens. Unter anderem ist er Autor, Musiker, Maler, Fotograf und Glaubensberater.

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