VIP – Mein Bruder der Supermann
Von Marco Siedelman // 3. Februar 2011 // Tagged: Animationsfilm, Superhelden // Keine Kommentare
Die VIPs gehören einem Superhelden-Geschlecht an, das seit Anbeginn der Zeit die schwächeren Lebewesen der Erde beschützt. Bisher heirateten die Supermenschen nur untereinander, doch durch eine Verwechslung verliebte sich Schnurrbart-VIP in eine gewöhnliche Kassiererin. Aus dieser ersten gemischt-rassigen Ehe zwischen Menschen und VIPs gingen zwei Söhne hervor, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: während Super-VIP mit gigantischer Körperkraft, Unverwundbarkeit sowie der Fähigkeit zu fliegen ausgestattet ist, hat der kleine Mini-VIP keine besonderen Talente. Neben seinem Bruder Super-VIP, Frauenschwarm und gefeierter Kämpfer gegen das Verbrechen, bleibt keine Beachtung übrig für Mini-VIP, der unter seinen mangelnden Fähigkeiten zunehmend leidet.
Nach einem Besuch beim Psychologen beschließt Mini-VIP eine Reise anzutreten um sich vom Stress zu erholen und seine Minderwertigkeitskomplexe abzubauen. Doch auf der Schiffsreise kommt es anders als gedacht: Gemeinsam mit einer als Löwe verkleideten Frau gerät Mini-VIP über Bord und strandet auf einer seltsamen Insel. Hier regiert die diktatorische Happy Betty, Besitzerin einer riesigen, weltweiten Supermarktkette – diese schmiedet gerade unheilvolle Pläne. Mit einem verrückten Wissenschaftler, militärischer Unterstützung, unzähligen Arbeitersklaven und der finanziellen Hilfe dubioser Geschäftsmänner plant Happy Betty eine gewaltige Massen-Gehirnwäsche zur ultimativen Profitsteigerung…
Nur wenige Jahre nach seinem ersten Langfilm „West and Soda“ (der zum kleinen Überraschungserfolg avancierte und auch internationale Beachtung fand) gelang Bruno Bozzetto mit „VIP“ ein dramaturgisch noch geschlosseneres und damit erzählerisch dichteres Werk als seine bereits überaus gelungene Italo-Western-Parodie. Bozzetto, der für seinen minimalistischen grafischen Stil bekannt und in Italien ein absoluter Star-Zeichner ist, wird nicht zuletzt geschätzt für einen unverwechselbar galligen satirischen Humor, nicht selten garniert mit bissiger Gesellschaftskritik und scharfen Spitzen gegen Politik, Medien und allgemeine menschliche Schwächen. Das der Regisseur, Drehbuchautor und Zeichner bei all dem Spott kein verbitterter Zyniker ist, zeigen seine liebevoll gezeichneten Helden, meist Außenseiter und Träumer die es nicht leicht im Leben haben – wie seine berühmteste Figur Herr Rossi oder eben auch sein Protagonist in „VIP“, das gedrungene Männlein Mini-VIP, der schwächste Mann der Welt.
Schon die Physiognomie zeugt von vorhandenem Selbstbewusstsein: Mit verschüchtertem Blick fühlt sich der gedrungene, unförmige kleine Mann unwohl in einer feindlichen Welt, während ihm in Form seines Bruders ein männliches Idealbild an die Seite gestellt wird. Super-VIP ist eine leicht erkenntliche Parodie auf Superman und alle Helden ähnlichen Strickmusters, bekommt aber durch die ihm inne wohnende Arroganz und an Dümmlichkeit grenzende Naivität eine ganz eigene satirische Note, die es nicht bei einer bloßen Verballhornung belässt. Vielmehr deckt Bozzetto anhand des selbstherrlichen aber dennoch gutherzigen Super-VIP das Problem jener strahlender Helden ohne Angriffspunkte auf: Jede Identifikation geht verloren und der immer überlegene Held wird einfach langweilig. Dementsprechend schenkt der Film seine Aufmerksamkeit eher dem benachteiligten Mini-VIP – Bozzetto bleibt den Outsidern treu.
Obgleich „VIP“ auch für Kinder bedingt geeignet ist, scheint Bozzetto keinesfalls daran interessiert zu sein, einen sauberen Familienfilm abzuliefern. Dafür spricht schon die schmutzig anmutende Ästhetik bar jeglicher Verniedlichung, die sich mit erdigen, matten Farben und skurriler Figurenzeichnung weitab von bekannten Disney-Standards bewegt und aufgrund des kleineren Budgets auch technisch nicht in dieser Liga spielen kann. Bozzetto schert sich aber einen Dreck um eine Annäherung an eventuelle amerikanische Vorbilder und zelebriert gerade seine so typischen, völlig simplifizierten Hintergründe, die dennoch ihren Effekt nicht verfehlen. Mitunter sind die Bewegungsabläufe etwas steif geraten, was aber durch Bozzettos ungezügelte Liebe zum schrägen Detail ausgeglichen wird. In zurückhaltendem Maß bedient er sich in „VIP“ auch anzüglicher und sogar leicht gewalttätiger Anspielungen (z.B. wird der Kampf zwischen einem kraftmeiernden Oberst und Mini-VIP nicht gerade zimperlich ausgetragen) und disqualifiziert sich somit als „pädagogisch wertvoll“ – was natürlich als zusätzlicher Sympathie-Punkt zu werten ist.
Auch wenn Bozzetto oberflächlich wieder eine Genre-Parodie inszeniert, ist er hier doch weniger daran interessiert Filmklischees und ikonische Bilder zu demontieren – vielleicht auch, weil der Superhelden-Stoff eher Sache der Amerikaner ist und es sich keineswegs um eine so genuine Thematik handelt wie es noch beim Italo-Western der Fall war. Die meisten offensichtlichen filmischen Referenzen entstammen dabei nicht, wie es Titel und Geschichte vielleicht vermuten lassen, aus klassischem Superhelden-Pulp sondern eher aus der Edel-Trivialreihe „James Bond“ – irgendwo ja auch ein Superheld. Nach einem eher handelsüblichen Beginn kommt die Handlung schon nach knapp 20 Minuten auf die oben erwähnte Insel, wo der gesamte restliche Film spielt. Hier verlässt Bozzetto endgültig die schnöde Superhelden-Parodie (zu der ihm nichtsdestotrotz einige köstliche Scherze einfallen) und unterfüttert seinen zweiten Langfilm mit schriller Konsumkritik, die mit bizarren Allegorien und einigen verstörend psychedelischen Einlagen die jüngsten Zuschauer komplett aus den Augen verliert. Nicht zuletzt diese unangepasste, grobschlächtige Art verleiht „VIP“ aber einen kaum zu leugnenden Charme. Fast jeder andere Regisseur hätte aus der Grundkonstellation und den sich zum Ende zuspitzenden Ereignissen (Super-VIP und die Frauen werden gefangen genommen) eine vorhersehbare Motivations-Story erzählt, in der ein Feigling über sich hinaus wächst und die halbe Welt rettet – Bozzetto pfeift glücklicherweise auch auf solch genormte Wendungen und verrät seine Charaktere nicht, in dem er sie zugunsten einer billigen Moral auflaufen bzw. zu Marionetten verkommen lässt.
Bestechend auch die Fülle intelligenter popkultureller und geschichtlicher Verweise, die bereits beim Charakterdesign beginnen: Der linkische Hornbrillenträger Mini-VIP ist eine eindeutig zu identifizierende Karikatur des Kultfilmers Woody Alle, während einer der wichtigsten Handlanger der fülligen Diktatorin eine ebenso offensichtliche Hitler-Karikatur ist. Letzteres besonders in der Hinsicht interessant, den so oft parodierten Diktator als gewöhnlichen Laufjungen mit Knarre zu degradieren und somit seine unfreiwillig komische Erscheinung in ein noch erbärmlicheres Licht zu rücken. Das ebenfalls oft verwendete Motiv des entführten Wissenschaftlers, der zu niederträchtigen Plänen hinzu gezogen wird, spielt Bozzetto hier durch und deutet auch hier wieder in Richtung Nazi-Unwesen und bringt sogar das heikle Thema unethischer Operationen und Versuche an Menschen auf den Tisch. Zwischen den manchmal doch arg platt geratenen Zoten findet der Film also immer wieder subversive Momente und einen zwischenzeitlich wirklich bösen Sinn für Humor.
Happy Betty verkörpert den Großkapitalismus in all seiner dekadenten Perversität – mit Hilfe undurchsichtiger Geschäftsmänner in eleganten Anzügen und versteckt hinter dunklen Sonnenbrillen und des entführten Wissenschaftlers aus Deutschland plant Betty, einer riesigen Menge von Menschen eine Sonde zu implantieren. Diese hat hypnotische Wirkung und soll sicher stellen, das die Menschen zu willenlosen Konsum-Zombies werden, die nur noch in den tausenden Supermärkten von Betty einkaufen gehen. In diesem Rahmen könnte man die einlullenden Strategien großer Konzerne und deren Kartell-Bildung inklusive korrupter bis mafiöser Strukturen kaum anprangern. Die Arbeiter werden ähnlich wie Klone dargestellt, von einer Maschine ausgespuckt und nur am Leben, um zu arbeiten, durch ihre Austauschbarkeit gesichtslos gehalten und nur auf ihre Funktion als Rädchen im System degradiert..
Diese Arbeiter, allesamt gleich aussehende kleine Asiaten mit penetrantem Grinsen im Gesicht, sind es auch, die sich im Laufrad abrackern müssen um die Geheimwaffe auf die Welt los zu lassen. Als gesellschaftskritische Parabel verhandelt „VIP“ also schwergewichtige Themen wie die Ausbeutung von Menschen als Arbeitssklaven, ausschließlich auf die Steigerung des Profits ausgelegte Wirtschaftsethik und blinden Gehorsam innerhalb eines unmenschlichen Systems. Bozzetto geht sogar noch einen Schritt weiter und führt die Parallelen zwischen faschistischer Herrenmenschen-Ideologie und dem gnadenlosen Räderwerk des Kapitalismus vor. Am Fließband gibt es in einer Szene einen Unfall, an dem einer der kleinen Asiaten offensichtlich stirbt und augenblicklich maschinell ersetzt wird – ein Roboter schiebt bereits den nächsten grinsenden Sklaven an die freie Stelle. „VIP“ strotzt ebenso vor visuellem Ideenreichtum (einfach köstlich, wenn beispielsweise Super-VIP in einer ratlosen Situation einen kleinen Stein auf seinem gewaltigen Bizeps auf und ab springen lässt) als auch vor intelligenten gesellschaftskritischen Zerrbildern. Ein vergessener Schatz der europäischen Zeichentrickgeschichte, der seinen Reiz allerdings nur entfaltet, wenn man sich mit der gewöhnungsbedürftigen Ästhetik anfreunden kann…
Vip, mio fratello superuomo / Italien 1969 / Regie: Bruno Bozzetto