Tod eines Freak-Stars
Von Marco Siedelman // 3. Februar 2011 // Tagged: Nachruf // Keine Kommentare
Wenn Wim Wenders empört die Vorstellung verlässt und sich über den moralischen Verfall des Kinos aufregt, das übrige Berlinale-Publikum ebenfalls Kopf steht und auch noch Anarcho-Komiker Helge Schneider eine Rolle spielt, dann muss es sich um einen tollen Film handeln oder? Die Rede ist von MENU TOTAL, einem frühen Spielfilm von Christoph Schlingensief (der mit Helge auch dessen 00 SCHNEIDER drehte), oft als Berufsprovokateur bezeichnet. Das exzentrische Werk gibt einen Ausblick auf Schlingensiefs weitere Entwicklung, zeigt seine Affinität zum Neuen Deutschen Film (Herbert Achternbusch und Rainer Werner Fassbinder stechen als besondere Inspirationsquellen hervor), aber eben zu dessen Randerscheinungen und extremen Ausprägungen. Ungehemmt zwischen Trash und Kunst delirierend, hat Schlingensief auch eingefleischte Cineasten polarisiert, ist mit seinen eigenwilligen Film-Experimenten immer irgendwie durchgekommen und hat es sogar zu internationaler Bekanntheit gebracht. Kein Wunder, war er doch ein Allrounder, etablierte sich als fester Bestandteil der (nicht nur) Berliner Opern- und Theater-Szene, fiel als Aktionskünstler auf und moderierte zwischenzeitlich sogar eine eigene subversive Show auf MTV, als dort für Subversion noch Platz war. Auch der Mainstream war ihm nicht fremd, wusste er ihn doch stets für sich zu nutzen – klug, sympathisch und vielseitig gebildet war Schlingensief ein ergiebiger Interview-Partner und guter Selbstdarsteller. Seit 2008 war bekannt, das dieser vielleicht letzte echte Humanist des deutschen Films (so zynisch seine bizarren Filme wie DIE 120 TAGE VON BOTTROP oder DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER auch wirken mögen, zeigen sie immer große Kompetenz im Hinblick auf ihren historischen, medialen, politischen und sozialkritischen Hintergrund) an Lungenkrebs litt. Infolge dieser Erkrankung, die zwischenzeitlich überwunden schien und die er in einem schonungslos-unkonventionellen Krebstagebuch dokumentiert hat, starb er am 21.08.2010. Schlingensief hinterlässt eine klaffende Lücke, denn wer könnte den Deutschen im Moment schöner ihre Borniertheit vor Augen führen?