Boogiepop Phantom

Von  //  27. April 2015  //  Tagged: , ,  //  Keine Kommentare

Die Pubertät ist eine merkwürdige Zeit. Während westliche Autoren sie zunehmend zur reinen Geschlechtreife verflachen, arbeitet die Kulturindustrie in Fern-Ost daran die Magie des Kindlichen mit dem Alptraumhaften des Erwachsenen zu vermischen. „Boogiepop Phantom“ als Ganzes ist eigen oder um ein beinahe antiquiertes Wort zu gebrauchen: gruselig. Der Grusel entsteht erst aus der Gewissheit, dass etwas bemerkenswert falsch läuft. Dinge nehmen einen unvorhergesehenen Gang und lassen einen mit einer dumpfen Gewissheit zurück. Dabei scheint gerade das Unaussprechliche zu einem Selbst zu gehören.

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Der Ort ist eine Großstadt Ende der 1990er Jahre. Er liegt in Japan. Ansonsten ist dieser Ort stereotyp. Eines Nachts ereignet sich ein Reaktorunfall. Dieser Unfall hüllt die Stadt in eine Art elektrostatische Käseglocke und für Wochen hinweg herrscht nun Geisterstunde. Doch es ist diese Geisterstunde, die nicht so tut, als ob die in ihr Gefangenen etwas anderes sind als Individuen mit eigenen sehr persönlichen Charaktereigenschaften. Sie sind nicht nur als Mitglieder einer Gruppe oder Klasse zu sehen, die zwangsläufig agieren wie Straßenbahnen auf Schienen. Die Geisterstunde behandelt die Kinder wie Erwachsene. Also vollständige menschliche Wesen, die mit einem freien Willen sowie der Fähigkeit zum moralischen Urteil ausgestattet sind – aber manche Persönlichkeitsaspekte entwickeln ein Eigenleben. Komplexe und ferne Abstraktionen. Monster allesamt. Sie tun Böses innerhalb des Spielraums, den sie haben. Sie nehmen was sie kriegen.

boogiepop pum pum

Poom Poom teilt Luftballons an die Orientierungslosen aus und outsourct so das innere Kind von Ihnen. Die inneren Kinder schwadronieren nun mit dem Jungen, der aussieht wie eine Mixtur aus der Rattenfänger von Hameln und Peter Pan, durch den Paisley Park und lassen die leeren Hüllen der Heranwachsenden im urbanen Raum zurück. Diesen Hüllen bleibt nur noch der Selbstmord. Jonouchi wollte schon immer ein Held sein. Dann kam die Diagnose Knochenkrebs. Im Krankenhaus trifft er Dr. Kisugi, der ihm eine Wunderpille verschreibt, die angeblich alle Probleme lösen kann. Selbstverständlich passiert nichts, bis der Reaktorunfall Jonouchi mit der Fähigkeit ausstattet die Schuldgefühle seiner Mitmenschen aufzuessen. Die Folge seines Handelns ist, dass seine Umgebung nicht mehr in der Lage ist, überhaupt noch für irgendjemanden Empathie zu empfinden. Klar, diese Kreaturen winken nicht mit dem Zaunpfahl, sondern mit einer ganzen anonymen Großstadt um den Zuschauer zu verdeutlichen, dass die Anarchie gesellschaftlicher Produktion, das Fehlen unmittelbarer gesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Handelnden bei gleichzeitiger Beeinflussung ihrer verschiedenen Tätigkeiten, eben erst diese Kreaturen hervorbrachte. Diese Jugendlichen sind aber weitesgehend in ein Ausblendungsverhältnis hineingeboren worden, dass den absoluten Verfügungsanspruch über Körper und Leben als einschränkende normative Lebensbedingung  vorraussetzt.

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Die Freiheit wird zum Zwang schlechthin. Ein Zwang der keine Kategorien dudelt.  Sie beruht auf Absorption und Submission der Gefühle. So muss sich der „postmoderne“ Schüler selbst anrichten („life long learning“). Schafft er das nicht, hat er sich wenigstens zu Grunde zu richten. Es verwundert nicht, dass die Charaktere in „Boggiepop Phantom“ eigentlich keine Charaktere sind. Eher ein Who is Who psychischer Unpässlichkeiten und Störungen. Der Reaktorunfall will den Einzelnen wieder an seine Umgebung, die Stadt erinnern, doch diese Stadtmenschen haben sich soweit von der Stadt entfremdet, dass sie sich nicht einmal selbst im Gesicht der städtischen Gesellschaft wieder erkennen. Stattdessen fliehen sie und laufen Poom Poom und Boogiepop direkt in die Arme. Sie verkriechen sich in ihren Wohnungen, wollen Jahrgangsbeste werden. Anonym wird die Großstadt in „Boogiepop Phantom“ nicht nur durch das Namenlose, sondern auch durch Fehlen jeglicher Sehenswürdigkeiten. Aber machen wir uns nichts vor: Megalopolen wie Lagos oder Bombay oder selbst das Rhein-Ruhr-Gebiet haben eigentlich kein Aussehen, sind Lebenszonen. Eine Stadt mit mehreren Millionen Bewohnern entzieht sich schlicht der Vorstellung. Die Bilder, die wir von diesen Städten im Gedächtnis haben, konvergieren ohnehin mit den Ansichten der fiktiven Städte, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat: Supermans Metropolis und Batmans Gotham City. Der Urbanismus verliert seine Vergangenheit und sieht keiner Zukunft mehr entgegen. Weder topografisch noch historiografisch lässt sich heute eine Metropole so verorten, wie Walter Benjamin es für Paris als Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts tat. Nur an Hand von musikalischen Abspielgeräten wie dem Disc-Man können wir überhaupt eine zeitliche Eingrenzung der Boogiepop-Gepeinigten angeben. Im Gegensatz zu den Gestalt gewordenen Monstern  sind unsere Städte insofern Illusionen, als dass in ihnen das gesellschaftliche Leben, von dem man glaubt, dass es hier gelingen kann, nicht gelingt, ja gar nicht stattfindet. Die Endgültigkeit unserer Städte markiert auch die Endgültigkeit der urbanen Lebensweise.

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Die Literaturvorlage von Kouhei Kadono verkaufte sich weltweit über zwei Millionen mal. Dennoch dürfte die Serie auf Grund ihres sehr eigenen Tons kaum über die Grenzen der Anime-Gemeinde hinaus Anklang gefunden haben. Zu groß war die Konkurrenz von „Daria“, „Harry Potter“ und den „Tributen von Panem“, die trotz allem doch wieder im Architektur-Kitsch endeten. Bei „Daria“ ist es die amerikanische Kleinstadt, bei „Harry Potter“ die alt-englische Privatschule imperialer Prägung. In den „Tributen von Panem“ wird gleich die gesamte Provinz zur dystopischen Vorhölle erklärt. Sicher, jeder Soziologe wird Ihnen sagen: Stadtluft macht nicht frei, sondern krank, doch diesen multiplen Pseudoindividualismus in seiner ganzen Widerwärtigkeit darzustellen, vermag nur „Boogiepop Phantom“. Es ist klar, dass dieses Fundament im Zusammenhang mit einer schon fast komisch schieflaufenden Emanzipation der Frauen zusammenhängt. Die in mehrfacher Hinsicht gezeichneten Mädchen sind auch hier alles andere als Heldinnen. Sie müssen sich in eine Umgebung einpassen und halten sich in ihrer Froschperspektive an das Nächstliegende: sich selbst. Wer sich nicht in der Gesellschaft und in seiner Welt auffassen kann, sondern sich aus sich selbst heraus verstehen muss, versteht auch sich selbst nicht. Die Erklärung für das Überleben missrät dann tautologisch: Über den Erfolg entscheidet die Erfolgsfähigkeit, „Gewinner“ gewinnen, „Looser“ verlieren. Man fühlt sich als verhinderte Persönlichkeit und setzt seine Lebensrechnung auf der Basis eines Minderwertigkeitsgefühls an. Der Distinktion liegt die Vorstellung zugrunde, dass man Fähigkeiten und Sinne als quasi endogen zukommende „Gaben“ auffasst (Intelligenz, Nervenstärke, Belastbarkeit, Charakter, Aussehen usw.). Eine solche Selbstauffassung verleitet dazu, aus der jeweiligen Perspektive (und hier auch Dimension) eine eigene Welt zu imaginieren. Der sich so Auffassende bezieht dann die Gleichheit auf die Verkehrsregeln im sozialen Austausch, schreibt der qualitativen Differenz aber das Eigentliche seines In-der-Welt-Seins zu. Der Grusel entsteht erst aus der Gewissheit, dass etwas bemerkenswert falsch läuft, doch am Ende machen alle ihre Rechnung mit der Realität.

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Japan 2000. Regie:Takashi Watanabe 

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