Selma

Von  //  25. Februar 2015  //  Tagged: , ,  //  Keine Kommentare

Geburtsschmerzen einer neuen Zeit

„Wir können jemanden jederzeit unwiderruflich ausschalten.“ J. Edgar Hoover im Oval Office-Gespräch mit Lyndon B. Johnson Montgomery, Alabama, 1955. Die Afroamerikanerin Rosa Parks weigert sich, ihren Platz im Bus einem Weißen zu überlassen. Das führt zu ihrer Festnahme und einem Boykott der Busse. Der schwarze „Busboykott von Montgomery“ startet das Civil Rights Movement. Ein Motor dieser Bewegung ist die „Southern Christian Leadership Conference“ (SCLC). Deren charismatischer Führer, ein Baptistenprediger aus Atlanta, wird 1964 Friedensnobelpreisträger. Die anstehende Preisverleihung räumt „Selma“ den Eingang zum Geschehen frei. Dr. King zweifelt vor dem Spiegel an der Popularität einer Krawatte. Gattin Coretta (Carmen Ejogo) rät zu mehr Mut zur Eitelkeit, ihr geht Martins demonstrative Bescheidenheit auf die Ketten. Sie wünscht sich ihren Mann der Familie zugewandter. Aber Martin Luther King braucht die Bruderschaft, um sich gesteigert zu erleben. Seine Ladestation ist die Bühne – und die Bewunderung der Schwergewichte in der Halbdistanz seines Lebens. Da sind Männer wie Andrew Young und Frauen wie Diane Nash. Ich finde es gut, dass der Film von Ava DuVernay (Oprah Winfrey und Brad Pitt produzierten mit) MLK in seinen häuslichen Verhältnissen geradezu erloschen darstellt. MLK reicht Corettas spröde Schönheit und das Familienglück nicht. Nachts ruft er Mahalia Jackson (Ledisi Anibade Young) an, um „die Stimme des Herrn“ zu hören. Er wirft die Sängerin aus dem Bett und sie macht, was Dr. King verlangt. Das ist Telefonsex mit einem Superstar.

David Oyelowo spielt MLK sauber abgebremst. Man spürt die Kraft und die Kontrolle. Ab und zu rutscht Martin auf der Schmierseife seiner Zweifel aus. Das sind starke Momente im Film. Auch die Rivalität zwischen SCLC und dem (jüngeren und lebhafteren) Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) sorgt für den Geschmack eines echten Historienschinkens. Manche Szenen evozieren ein Bild von Eulen und Falken. King und seine Tafelrunde kühlen die Heißblütigkeit der Studenten bis zu einer brauchbaren Temperatur herunter. Auf jeden Weißen, den wir killen, kommen zehn von uns, die gekillt werden, erklären sie dem Nachwuchs der Revolution. „Selma“ erzählt vom Kampf um das Wahlrecht. Mit Mitteln der Bürokratie und der Bedrohung hält das weiße Establishment unter der Ägide von Alabama-Wallace die schwarze Bevölkerung von Rechten ab, die von der Verfassung garantiert werden. Tim Roth spielt Gouverneur George Corley Wallace schön schneidig. In seine erste Amtszeit fiel der „Bombenanschlag von Birmingham“, dessen Schilderung in „Selma“ misslingt.

Wallace repräsentiert ein Selbstverständnis, das Segregation in die Nähe eines Naturgesetzes rückt. Der Film gibt solchen Standpunkten Raum. Er zeigt den Zusammenstoß von Gruppen, die nur aus Verteidigern zu bestehen scheinen. Wieder einmal geht das Abendland im Ansturm der Barbaren unter. Die Geburtsschmerzen einer neuen Zeit lassen das bleiche Antlitz der Gegenwart grimassieren. Nur Wallace behält die Fassung seiner Verachtung. Andere tarnen Unfähigkeit mit Verachtung oder verwechseln Masse mit Kraft oder Jahrhunderte, aber Wallace ist einfach ein Konföderierter ohne Pferd. Er sieht den Angelus Novus Dr. King an, als stünde der Ku-Klux-Klan mit einem Kälberstrick im Anschlag vor der Tür. Tim Roth gibt einen fabelhaften Gouverneur ab. 1965 konzentriert sich der gewaltfreie Protest auf Selma, Alabama. Hier wurden in der Vergangenheit Versuche afroamerikanischer Bürger, sich als Wähler registrieren zu lassen, von Amts wegen besonders fintenreich obstruiert. Der große weiße Mann vor Ort ist Sheriff Jim Clark – ein Gewalttäter in Uniform und ein Bruder im Geiste von FBI-Chef J. Edgar Hoover, der von seinem Präsidenten freie Hand verlangt: „Wir können jemanden unwiderruflich ausschalten.“ Clark sperrt MLK ein, die Zelle wird zum Schauplatz der inneren Einkehr. Ihr entgegengesetzt sind Oval Office-Impressionen – Dr. King im Gespräch mit Lyndon B. Johnson aus Stonewall, Texas. „But even if we pass this bill, the battle will not be over“ – Der Präsident, von Tom Wilkinson angenehm grobschlächtig gespielt, fordert quid pro quo von dem „Negerführer“, der dem kultivierten Rotnacken lieber ist als Malcolm X. MLK gilt der US-Regierungsspitze als kleineres Übel, so windelweich wurde er lange auch von Malcolm X gesehen. Nun will der Radikale im SCLC-Stil die Sache voranbringen. Er wird das Jahr nicht überleben. Um als Leiche mit Zukunft in die Geschichte einzugehen.

An sich ist MLK ein Mann, der die Herzen rührt, ohne selbst den Kopf zu verlieren. In der Not hilft ihm Matthäus 6, 26: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?“

Die meisten großen Filme transportieren Sätze, die dem kollektiven Unbewussten abgelauscht sind und ins kollektive Gedächtnis eingehen. „Selma“ kommt ohne einen großen Satz aus. Die Aktivisten des zivilen Ungehorsams sammeln sich in Selma, sie scheitern in Selma, sie kehren zweimal um, als Sinnbild ihres Scheiterns überspannt die Edmund Pettus Brücke den Alabama. Der siebte März wird Bloody Sunday. Ein Gericht entscheidet zugunsten der Demonstranten. Im dritten Durchgang gelingt der Marsch von Selma nach Montgomery als genehmigter Protest – we shall overcome. Der Marsch zur Landeshauptstadt begann an einem kalten Tag. Im Film scheint die Sonne, auch ein weißer Pastor aus Boston biss vorher in den Asphalt. Die letzten Worte, die er auf Erden vernahm, lauteten: „Jetzt weißt du, wie es ist, ein Nigger zu sein.“

Alabama 2104, Regie: Ava DuVernay, mit Tom Wilkinson, Giovanni Ribisi, David Oyelowo

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