The Selfish Giant

Von  //  12. November 2013  //  Tagged: , ,  //  1 Kommentar

Warnhinweis: Der Konsum dieses Films kann Gefühle von Ohnmacht, Trauer und Wut hervorrufen. Zugleich, und hier kommt die paradoxe Wirkung von Clio Barnards zweitem Feature-Film zum Tragen, ist The Selfish Giant ein Therapeutikum für die Seele. Eine Rosskur im wörtlichen und übertragenen Sinn. Die Helden der Geschichte sind Arbor (Conner Chapman) und Swifty (Shaun Thomas), zwei 13-Jährige aus einem Vorort der nordenglischen Industriestadt Bradford. Die beiden Freunde könnten unterschiedlicher nicht sein. Arbor ist ein ADHS-Kind, wie es im Buche steht: aufsässig, respektlos, ständig unter Strom, die blanken Nerven nur notdürftig mit Ritalin isoliert. Swifty hingegen ist ein Stoiker (im umgangssprachlichen Sinne zu verstehen); gutmütig, duldsam und ein bisschen behäbig, aber auch mit einem Händchen für den Umgang mit Pferden gesegnet. Gemeinsam ist den beiden die Perspektivlosigkeit, in die sie von ihren lebensuntauglichen Eltern hineingeschissen worden sind. Postindustrielle Out-of-work-Class, für die der Begriff „sozialschwach“ noch viel zu sozial klingt.

Arbors Mutter entgleitet die Alleinerziehung ihrer beiden Kinder völlig; ihr kleinkrimineller älterer Sohn finanziert seinen Drogenkonsum, indem er die Tabletten seines Bruders an Junkies vertickt, während Arbor die Schule schwänzt, um „scraps“ (Altmetall) zu sammeln und sich von ausgekochten Schrotthändlern über den Tisch ziehen zu lassen. Die Werktätigkeit von Swiftys Eltern beschränkt sich auf das halbherzige Zeugen und Züchtigen von Kindern. Sie haben „Glück“, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes keine Ambitionen zeigen, sich näher mit der verlausten Kinderschar zu beschäftigen; die Tatsache, dass die Kinder auf einer Müllhalde leben müssen, übersehen die Kontrolleure ebenso wie den kalten Dosenfraß, den der Nachwuchs zur Feier des Jugendamtbesuchs vorgesetzt bekommt („aufgetischt“ wäre zu viel gesagt, denn sämtliche brauchbaren Einrichtungsgegenstände sind bereits von Gerichtsvollziehern und anderen Geldeintreibern aus der verranzten Wohnung entfernt worden). Für die Lehrer ist es bereits ein Erfolg, wenn sie die gesellschaftliche Ausschussware, die sie da unterrichten sollen, einen Tag lang ohne Versicherungsfall aufbewahrt haben; und die resignierten Behördenvertreter üben sich darin, auch angesichts schreiender Missstände beide Augen zuzudrücken. Es ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass die Mittel, zu denen die Kinder greifen, um ihr Leben und das ihrer Familien zu verbessern, die schlechtesten aller möglichen sind. Anstatt – wie von den wenig vorbildhaften Erwachsenen gefordert – auf die langfristige Perspektive Bildung zu setzen, versuchen Arbor und Swifty, umgehend etwas an der Misere ihrer Familien zu ändern. Metall, auch geklautes, bringt schnelles Geld, die Teilnahme an illegalen Trabrennen ebenso. So werden die Jungen aus verschiedenen Gründen von Altmetallhändler Kitten (Sean Glider) angezogen, der nicht nur einen Schrottplatz besitzt, sondern auch einen vielversprechenden Traber. Kitten ist seinem harmlosen Namen zum Trotz ein brutaler Halsabschneider, der die Kinder schamlos ausnutzt und in einen Sumpf aus Abhängigkeit, Schuld und Misstrauen hinein treibt.

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Klingt nach ultimativer Trostlosigkeit. Tatsächlich wäre The Selfish Giant bloß eine defätistische (und leider recht realistische) Millieustudie, hätten Arbor und Swifty der emotional-sozialen Impotenz ihrer Lehr- und Erziehungsberechtigten nicht etwas entgegenzusetzen: Loyalität, etwas, für das es kein besseres Wort gibt als „Liebe“, und den – wenngleich fehlgeleiteten – Willen zur Veränderung. Konzepte, die aus der Welt der Erwachsenen völlig verschwunden zu sein scheinen. Dass dieser Film als Erzählung und als bildästhetisches Werk funktioniert, dass er in keinem Moment in Unterklassenromantik, Freundschaftskitsch oder Vom-Underdog-zum-Winner-Klischees abrutscht, hat verschiedene Gründe: Einmal ist der Film handwerklich gut gemacht. Die beeindruckend bedrückenden Bilder von Kameramann Mike Eley bieten dem Zuschauer keine Möglichkeit, es sich in heimeligen Proletariatsverklärungen gemütlich zu machen. Der Grundton ist durchweg nieselregengrau, selbst enge Innenräume vermitteln das Gefühl feucht-klammen Unbehagens. Keine Beschönigungen, kein Shabby-Charme, keine Gnade. Und dennoch ringt Eley der Industrielandschaft eine eigene Schönheit ab, obwohl – oder vielleicht gerade weil – in allem, was zumindest die Erinnerung an Natürlichkeit behalten hat, der rücksichtslose Eingriff durch den Menschen zu erkennen ist. Wenngleich es hin und wieder entlastende, situationskomische Momente gibt, liegen Freiheit und Gefahr stets nah beieinander, auch auf der Bildebene. Die weite Pferdekoppel, auf der sich die Kinder gerne aufhalten, ist zugleich der Standort von Hochspannungsmasten. Dafür, dass kein allzu heimeliges Gefühl aufkommt, sorgt auch der minimalistische Score von Harry Escott. Der Soundtrack versucht nichts zu ersetzen, was die Bilder nicht vermitteln können. Dazu besteht keine Notwendigkeit. Keine Unterlegung mit dramatischen Klängen, keine Verstärkung von Emotionen durch expressive Melodien, keine Vorwegnahme von Spannungsmomenten durch anschwellende Töne, nur das Sirren, Brummen und Knistern der Hochspannungsleitungen.

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Der Hauptgrund aber für das Gelingen dieses Films ist die Leistung der Schauspieler. Hauptdarsteller Conner Chapman und Shaun Thomas hatten, wie Clio Barnard in einem Interview berichtet, niemals zuvor vor einer Kamera gestanden und waren zudem noch gegen ihren Charakter besetzt. Doch was die 13 und 15-Jährigen zeigen, wäre selbst dann noch erstaunlich, wenn beide erfahrene Profis wären. Chapman baut eine derart hohe Körperspannung auf, dass man keine Sekunde lang an der behandlungsbedürftigen Hyperaktivitätsstörung seiner Figur zweifelt. Thomas vermittelt die Verzweiflung Swiftys, der zwischen gesellschaftlichen Anforderungen, seinen bescheidenen Wunschträumen und der Loyalität Arbor gegenüber zu zerreißen droht, meisterhaft. Auch die anderen Rollen sind bis zur letzten Nebenfigur klug besetzt. Die Interaktion zwischen den Figuren wirkt fast schon dokumentarisch glaubwürdig. Dazu trägt die Diktion einiges bei, denn die Charaktere sprechen fast durchweg nordenglischen Straßenslang. Es bleibt zu hoffen, dass The Selfish Giant nicht durch eine Synchro verstümmelt wird, denn es wird sich wohl kaum ein adäquater deutscher Jargon finden. Die unbehauene Sprache und die authentische Artikulation allerdings sind für den Film konstitutiv.

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„Was hat nun aber dieser Film mit Oscar Wildes gleichnamigem Märchen gemein?“, mag man fragen. Die Antwort: Nicht viel und zugleich eine ganze Menge. Auf Handlungsebene wird man nur mit gutem Willen Verknüpfungen zu Wildes phantastischer Geschichte über einen hartherzigen Riesen erkennen, der mit den spielenden Kindern auch den Sommer aus seinem Garten verbannt. Wie der kleine Junge (deutlich als Erlöser gekennzeichnet) der letztlich das Herz des Riesen erweicht und die Sonne zurück in den Garten bringt, halten aber auch Arbor und Swifty ihrem von hoffnungs-, visions- und illusionslosen Erwachsenen gemachten Umfeld etwas entgegen: Den Glauben an immaterielle Werte. So wird selbst der skrupellose Kitten schließlich durch seine Unfähigkeit zu Fall gebracht, die tiefe Verbundenheit von Arbor und Swifty zu begreifen. Wie die Kinder in Wildes Märchen können auch Arbor und Swifty nur innerhalb der starren Grenzen agieren, der ihnen von der Gesellschaft, den Großen, gesetzt werden, aber sie tun es auf ihre eigene, unbeirrbare und letztlich integre Art. Und beide zeigen das Potential, aus den Rollen herauszuwachsen, die ihnen zugeschrieben werden. So erweisen sich selbst die zunächst als unpassend erscheinenden Namen der Protagonisten als gut gewählt: Der phlegmatische, dickliche Swifty, dessen Familienname Swift zunächst als ironischer Seitenhieb erscheint (swift = flink, aber auch Mauersegler), entpuppt sich vor allem im Umgang mit Pferden als alert und behende. Und der fahrige, unkonzentrierte Arbor (lat. Baum) zeigt sich am Ende als aufrechter und standfester als alle Erwachsenen zusammen. Auch wenn es von der metallischen Kälte der Erwachsenenwelt erstickt zu werden droht: Das Feuer der Kinder, das mal in verzweifeltem Wüten, mal in einer wahrhaftigen Berührung, mal in sturer Unbeugsamkeit, mal in der Bitte um Verzeihung Ausdruck findet, ist bis zuletzt nicht auszulöschen. Man kommt um religiös vorbelastetes Vokabular nicht herum, aber in diesem erschreckend wirklichkeitsnahen Film geht es um nicht weniger als Liebe, Schuld, Opfer und Vergebung. Arbor und Swifty verschieben die Grenzen, auch wenn es nur ein kleines bisschen ist, und füllen den neu entstandenen Raum mit Menschlichkeit, Sinn und Hoffnung. Obgleich von vornherein klar ist, dass bei Parametern, wie sie in diesem Plot gesetzt sind, die Katastrophe unausweichlich ist, verlässt man den Kinosaal nicht in fatalistischer Resignation.

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UK 2013, Regie: Clio Barnard

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Über den Autor

Bianca Sukrow, geb. in Aachen, ist Literaturwissenschaftlerin, Mitgründerin des Leerzeichen e.V., freie Lektorin und Journalistin. Im persönlichen Umgang ist sie launisch, besserwisserisch und pedantisch.

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