Serbis

Von  //  12. November 2011  //  Tagged: ,  //  Keine Kommentare

Brillante Mendozas Aufsehen erregender Film Kinatay, mit dem er 2009 in Cannes den Best Director – Award gewann, hat dem philippinischen Regisseur ohne Zweifel einen gewaltigen Bekanntheitsschub verpasst. Und das, obwohl sein Name schon länger in informierten Weltkinokreisen gehandelt wird – wie überhaupt südostasiatische Kinematographien mit ihren Neuerungsbestrebungen verstärkt seit Jahren das internationale Interesse auf sich ziehen. So ist sowohl Kinatay als auch Lola (beide 2009) bei Rapid Eye Movies als DVD erschienen; Lola bekam sogar eine Kinoauswertung und wurde in mehreren Tageszeitungen extensiv besprochen. Von Serbis, der vergangene Woche auf arte im Original mit Untertiteln gezeigt wurde, existiert eine DVD auf dem internationalen Markt, ebenso von seinem fantastisch dunklen Debut Masahista (über den ich [hier] etwas geschrieben habe), eine Geschichte über sexuell diensteifrige Jugendliche, die als Masseure die schwule Kundschaft eines Massagesalons am Stadtrand verwöhnen.

Serbis ist nun der Film vor Kinatay, und Mendoza erzählt die Geschichte einer Familie, die in einer philippinischen Kleinstadt ein Pornokino betreibt. Um genau zu sein: in dieser Geschichte erzählt er mehrere Splitter-Geschichten zugleich, die der einzelnen Familienangehörigen nämlich. Keinesfalls darf das mit „Familiengeschichte“ missverstanden werden, denn eine solche erzählt er gerade nicht. Es handelt sich um eine Familie, die sich auflöst, die auseinanderstrebt, die gescheitert ist. Es sind mehrere Generationen, die da zusammenleben, und in ihrer Mitte steht die Mutter, eine Matriarchin: Nanay Flor. Eine Frau unterwegs zum Gericht, wo sie von ihrem Mann geschieden werden will, der sie mit einer Jüngeren betrügt, und von dem sie Unterhaltszahlung zu erstreiten hofft. Dann ist da ihre Tochter mit dem Gatten, die sich um eine kleine Garküche im Eingangsbereich des Kinos kümmern, die selber zwei Söhne und eine Tochter haben. Einer ist der Filmvorführer, der andere (Mendozas Stammschauspieler und Liebling Coco Martin) ist gehbehindert und hat sich um sämtliche hausmeisterliche Arbeiten zu kümmern. Der Ärger hat mit seiner Freundin, da sie schwanger ist, und der sich vor der Verantwortung drücken will. Außerdem gibt es noch einen bebrillten Schuljungen, von dem man nicht genau weiß, zu wem er gehört. Das Kino namens „Family“ ist ein großes, mehrstöckiges und eindrucksvolles Gebäude an einer Straßenkreuzung, das schon deutlich bessere Tage gesehen hat. Es ist ziemlich runtergekommen, die Klos verstopfen schnell und laufen über, der Verkehrslärm von draußen ist ohrenbetäubend, und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen der Kinobesucher. Aber nicht nur der: auch die Stricherjungs lungern überall herum und bieten ihre Dienste an – und man darf nicht denken, dass Mendoza die Darstellung homosexueller Akte scheuen würde.

Selbstverständlich befinden sich auch die Wohnräume der Familie in diesem Gebäude: einzelne Zimmer, die zumeist offen stehen und von jedem betreten werden können. Ärmliche Zimmer, die Schauplatz von Beischlaf und Streitereien sind, wenn sich etwa die Brüder um ein sauberes T-Shirt prügeln. Es ist ein Treffpunkt der Sehnsüchtigen und der Verzweifelten, der Hungrigen und Sexgeilen, von Freunden und Konkurrenten, von Freiern und Ladyboys, ein Tohuwabohu die Treppen hoch und runter und die Flure entlang. Und im Kinosaal herrscht sowieso ein freimütiges Chaos. Dies wird einmal mit viel Gelächter aufgelöst, als sich eine Ziege in den Saal verirrt und meckernd vor der Leinwand steht. Das Tier wird von allen durchs ganze Haus gejagt und flieht schließlich hinaus auf die Straße und in den dichten Straßenverkehr.

Eine der schönsten Eigenschaften der Filme Mendozas ist ihr Naturalismus. Auch in Serbis, übrigens das Codewort der Stricher („Service?“) um ihre Dienste anzubieten, macht Mendoza nie den Fehler, das Geschehen zu bewerten. Er lässt die Bilder für sich selbst sprechen und gibt auch nicht der Versuchung nach, diese besonders wüst, drastisch oder brutal zu gestalten. Dinge passieren und werden hingenommen. Auch die Handlung entfaltet sich erst nach und nach, wie auch die Figurenkonstellation sich erst allmählich herauskristallisiert. Dies gibt dem Film eine Offenheit, die als Struktur auch auf das Hauptmotiv des Filmes verweist: die Auflösung fester Strukturen. So wie sich die Familie ohne Vater (oder dessen Einkommen) kaum über Wasser halten kann – zwei andere Kinos hat sie schon aufgeben müssen – so scheint es an diesem Ort keine Zukunft für sie zu geben. Das Gebäude selbst ist ein abgenutzter, maroder Bau, der im Verfall begriffen ist, ein durchlässiger Ort des Transits und der flüchtigen Begegnungen, des kurzen Verweilens, der vom Publikum und auch den Bewohnern ständig betreten und wieder verlassen wird. Die Eingangstore werden scheinbar nie geschlossen, wie auch die Privaträume stets offen stehen. Auch der ständig alles durchdringende Straßenlärm verweist auf den Ort als öffentlichen und durchlässigen. Nicht zuletzt befindet sich das Kino selbst an einer der großen Hauptstraßen, zudem an einer äußerst belebten Kreuzung. Ein Verweis auf die sich scheidenden Wege. Man nimmt nicht zuviel vorweg, denn es steht die ganze Zeit im Raum, wenn man preisgibt, dass eine der Figuren am Ende die Koffer packt und alles hinter sich lässt. Die Matriarchin erkennt das und hält ihn nicht zurück. Als wäre das nicht genug der Auflösung, so verbrennt am Ende selbst der Film. Er bleibt stehen, und die Projektor-Lampe brennt ein Loch ins Zelluloid. Serbis ist vorüber, ohne klassisch zu Ende erzählt worden zu sein. Serbis zeigt einen Ausschnitt aus einer fremden Welt, und dann ist das Material alle. Serbis ist ein großartiger Film.

Philippinen/Frankreich/Südkorea/Hongkong 2009, Regie: Brillante Mendoza

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Über den Autor

Michael Schleeh schaut vor allem asiatische Filme. Seit ein paar Jahren betreibt er das Blog SCHNEELAND und schreibt Reviews für verschiedene Webseiten. Indisches Regionalkino ist sein aktuellstes Ding. ~~ Michaels Filmtagebuch: http://letterboxd.com/schneeland/ ~ Michaels Twitter: @mono_micha

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